© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/11 10. Juni 2011

Die Furcht vor dem erstarkenden Riesen
Serie Präventivkrieg Barbarossa, Teil II: Im Vierjahresplan von 1936 wird die Rüstung auf die immer bedrohlicher wachsende Sowjet-Armee ausgerichtet
Stefan Scheil

Die Initiative für den Angriffsbefehl auf die UdSSR ging 1940/41 vom deutschen Diktator aus. Er handelte dabei gegen den Rat seines Außenministers Joachim von Ribbentrop und angesichts einer Einstellung in den eigenen Streitkräften, die diesem Krieg bestenfalls neutral gegenüberstand.

Insofern steht für eine Beurteilung der Gründe für den Angriffsbefehl Hitler und seine Gedankenwelt im Mittelpunkt. Es sind nach Beginn des Unternehmens Barbarossa zudem Äußerungen Hitlers über Rußland als „riesigen Kuchen“ und „unser Indien“ überliefert, die in enger Beziehung zu einigen in seiner millionenfach publizierten Programmschrift „Mein Kampf“ enthaltenen Absichtserklärungen stehen.

Beides zusammen kann darauf hindeuten, daß dem Unternehmen Barbarossa längerfristige Planungen mit der Absicht zur „Eroberung von Lebensraum“ zugrunde lagen und wurde vielfach so interpretiert. Dem kann man allerdings zahlreiche Äußerungen aus dem Zeitraum von 1925 bis 1941 entgegenhalten, die in krassem Widerspruch zu diesen Eroberungsphantasien stehen. Sie wurden sowohl gesprächsweise als auch schriftlich in Geheimpapieren getätigt und sind insbesondere auch deshalb relevant, weil sie ein realistisches Bild der UdSSR zeigen, wie sie sich seit den 1920er Jahren entwickelt hatte. Aus dem Staat, dessen sicheren Zusammenbruch Hitler zu dieser Zeit in „Mein Kampf“ als Bestätigung seiner Rassenlehre erwartet hatte, war eine Supermacht geworden, die er als wirtschaftliche und militärische Bedrohung wahrnahm: Tatsächlich hatte Hitler 1936 eine Beschleunigung der deutschen Rüstung ausdrücklich deshalb angeordnet, weil seiner Meinung nach ein sowjetischer Überfall auf Europa drohte, was sogar öffentlich als Rechtfertigung für die Rheinlandbesetzung 1936 angeführt wurde, nachdem das damals frisch ratifizierte französisch-sowjetische Bündnis diese militärische Macht der UdSSR ins innereuropäische Kalkül geholt hatte. Die Folgen der neuen Entwicklungen dort faßte er in seinen für den innersten NS-Kreis formulierten Gedanken zusammen.

Diese Denkschrift zum Vierjahresplan von 1936, eines der geheimsten Dokumente des NS-Regimes, hielt dies unmißverständlich fest: „Der Marxismus (hat) durch seinen Sieg (...) eines der größten Reiche der Welt als Ausgangsbasis für seine weiteren Operationen geschaffen (...). Einer in sich selbst weltanschaulich zerrissenen demokratischen Welt tritt ein geschlossener autoritärer weltanschaulich fundierter Angriffswille gegenüber. Die militärischen Machtmittel dieses Angriffswillens steigern sich dabei in rapider Schnelligkeit von Jahr zu Jahr. Man vergleiche mit der heute tatsächlich geschaffenen Roten Armee die Annahmen des Militärs vor 10 oder 15 Jahren, um die gefährlichen Ausmaße dieser Entwicklung ermessen zu können. Man überlege sich aber die Ergebnisse einer weiteren Entwicklung in 10, 15 oder 20 Jahren, um sich ein Bild der dann eintretenden Verhältnisse zu machen. (...) Gegenüber der Notwendigkeit der Abwehr dieser Gefahr haben alle anderen Erwägungen als gänzlich belanglos in den Hintergrund zu treten!“

Diese Denkschrift gibt Auskunft über den Eindruck, den die sowjetische Rüstung in Deutschland bis dahin hinterlassen hatte. Hitler hatte sie im Sommer 1936 geschrieben und hielt sie noch 1944 für wichtig genug, eine Abschrift davon an Albert Speer zu übergeben. Die in Bildung und Forschung vielfach – und regelmäßig aus dem Zusammenhang gerissen – zitierten Schlußsätze, wonach die deutsche Armee in vier Jahren einsatzfähig sein und die deutsche Wirtschaft in vier Jahren kriegsfähig sein müßten, beziehen sich auf die Abwehr von „bolschewistischen Angriffen“, von denen er „die endgültige Vernichtung, ja Ausrottung des deutschen Volkes“ erwartete.

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