© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

„Der Kampf um die Kuppel“
Oscar Schneider, ehemals Bundesbauminister, genannt der „Feuilletonist unter den Ministern“, war Vorkämpfer für Berlin als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands und für die Wiederbekrönung des Reichstags mit einer Kuppel.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Schneider, können Sie sich vorstellen, Deutschland würde heute von Bonn aus regiert?

Schneider: Nein, das habe ich mir für das wiedervereinigte Deutschland weder 1990 noch heute vorstellen können.

Als einziger CSU-Abgeordneter haben Sie damals den Antrag „Vollendung der Einheit“ für Berlin als Hauptstadt unterschrieben, über den am 20. Juni vor zwanzig Jahren der Bundestag abgestimmt hat.

Schneider: Wer historisch denkt, versucht die Gegenwart aus der Vergangenheit zu verstehen. Deshalb war ich immer der Auffassung, daß wir an dem Tag, an dem die Wiedervereinigung endlich auf der Tagesordnung steht, dort anschließen müssen, wo der Deutsche Bundestag im Herbst 1949 begonnen hat, damals hat er erklärt: Bonn ist ein Provisorium, die deutsche Hauptstadt ist und bleibt Berlin! An dieser Tatsache wollten sich viele nicht mehr erinnern.

Die Entscheidung war mit 338 zu 320 Stimmen denkbar knapp. Was, wenn die Mehrheit für Bonn gestimmt hätte?

Schneider: Das hätte den Einigungsprozeß wesentlich erschwert und die politische Geographie Deutschlands in Schieflage gebracht. Die preußische Hauptstadt Berlin ist zwar erst nach dem Scheitern der 48er-Revolution, nach dem deutschen Bruderkrieg 1866  und mit dem Sieg über Frankreich 1871, den die süddeutschen Staaten mit Preußen und dem Norddeutschen Bund gemeinsam erfochten haben, Hauptstadt des Deutschen Reiches geworden. Aber gleich, wie man die Reichseinigung unter Otto von Bismarck politisch beurteilt, niemand kann bestreiten, daß damit die preußische Metropole eine zentrale Funktion für alle Deutschen bekommen hat, wie keine andere deutsche Stadt der modernen Zeit. Damit hat sich Berlin den höchsten Anspruch auf Repräsentation ganz Deutschlands erworben.

Das sagen Sie als Franke?

Schneider: Ja. Zwar bin ich als Franke und Bayer ein unbedingt föderalistisch denkender Mensch und die deutsche Geschichte ist zweifellos vor allem die Geschichte der deutschen Stämme, selbst das Bismarck-Reich trug noch stark föderale Züge. Aber auch der föderale Staat braucht einen archimedischen Punkt.

Sie waren während der heißen Phase der Abstimmung kulturpolitischer Sprecher der Unions-Fraktion. Hatte denn der „gemeine“ Abgeordnete für eine so historische Argumentation überhaupt einen Sinn?

Schneider: Damals wurde von der Gegenseite vor allem argumentiert, daß Berlin, Preußen und der Reichstag hauptsächlich für die negativen oder fehlgeschlagenen Kapitel der deutschen Geschichte stünden. Ich habe aber in meiner Rede vor der entscheidenden Abstimmung vom 20. Juni 1991 im Bundestag noch einmal klargestellt, wie verfehlt die Auffassung ist, das Deutsche Reich sei an der preußischen Militärmonarchie gescheitert. Tatsächlich hatte das Dritte Reich Adolf Hitlers mit Preußens Idee und dem Ingenium Bismarcks nichts gemein. Die nationalsozialistische Propaganda hat in geschichtsfälschender Weise zwar versucht, Hitler in die Reihe von Friedrich dem Großen und Bismarck zu stellen. Mit beiden aber hatte dieser Dämon nicht die geringste Gemeinsamkeit. Maßgebliche Führer der NSDAP kamen nicht aus dem preußischen Adel oder Bürgertum, sondern hatten – so leid es mir tut – einen bayerischen Geburts- oder Taufschein. Hitler selbst war bekanntlich bis 1932 österreichischer Staatsbürger.

Wie ist es denn nach Ihrer Ansicht heute um das historische Bewußtsein in der Politik bestellt?

Schneider: Ich kenne eine ganze Reihe von Kollegen, denen ich zutraue, ausreichend davon zu haben. In jeder Fraktion werden Aufgaben und Funktionen verteilt, das ist in der Tagespolitik wichtig. Doch darf es in der Politik nicht an einem historischen Bewußtsein fehlen, wenn der große Wurf gelingen soll. Denn den „Mantel der Geschichte“ kann nur der rauschen hören, der hierfür auch das nötige Bewußtsein hat. Helmut Kohl hat dieses Rauschen, um bei Bismarck zu bleiben, nicht überhört.

Wer von Preußen redet, so haben Sie immer wieder gemahnt, der könne dies nicht tun, ohne auch von Königsberg zu sprechen.

Schneider: Natürlich, wo schließlich der erste preußische König gekrönt wurde und Immanuel Kant lebte und wirkte. Von Preußen kann man also nicht reden, ohne nicht auch von Kants Programmsatz „Sapere aude!“ zu sprechen: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Und was wiederum Berlin angeht: Das war auch unter Wilhelm II. keineswegs rückschrittlich, sondern eine fortschrittliche Industrie- und Kulturstadt sowie ein Wissenschaftsstandort ersten Ranges. Es gab also auch sehr viel Licht in Preußen, nicht nur Schatten: Preußen war weitaus mehr als eine Militärmonarchie.

Das heißt, in einer Hauptstadt muß die eigene Nationalgeschichte ablesbar sein?

Schneider: Soweit möglich, natürlich. Das entspricht europäischer Erfahrung. Was aber nicht heißt, daß Deutschland auf ein Zentrum reduzierbar wäre. Sieben Kurfürsten hatten das Recht, den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu wählen. Es gab lang nicht die deutsche Hauptstadt, sondern viele kaiserliche Residenzen, die in Wien, Palermo, Aachen, Nürnberg oder auch in Prag zu finden sind. Der Föderalismus gehört zu Deutschland, doch muß ihm eine Mitte gegenüberstehen.

Könnte dazu in der Ära der Globalisierung nicht aber auch ein reines Verwaltungszentrum reichen, ob in Bonn oder sonstwo?

Schneider: Nein, gerade in einer modernen, sich globalisierenden Welt gewinnen die kleinen Strukturen neue Bedeutung. Gerade der moderne Mensch braucht Heimat. Ja, je mehr wir global denken, desto wichtiger wird die Verankerung in Heimat, Kultur und Nation.

Warum?

Schneider: Die Geschichte lehrt, Völker leben länger als Staaten. Ein Volk aber, das seine kulturellen Quellen vernachlässigt, steigt ab.

1985 hat Ihnen als damaligem Bundesbauminister Helmut Kohl einen „Geheimauftrag“ zur Vorbereitung des Reichstags als Ort eines künftigen gesamtdeutschen Parlaments erteilt.

Schneider: Helmut Kohl hat in seiner Rede im Reichstag zur 750-Jahr-Feier  Berlins 1987 davon gesprochen, daß er sich sicher sei, die Geschichte habe zur Teilung der deutschen Nation ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Bei der Beseitigung der Brand- und Kriegsschäden am Reichstagsgebäude, die in den sechziger Jahren vorgenommen wurden, hatte man aber auf die Funktionsfähigkeit des Gebäudes für ein gesamtdeutsches Parlament nicht geachtet. Das gesamte Gebäude mußte nun in seiner inneren Struktur entkernt werden, die Nutzung als gesamtdeutsches Parlament erst neu geplant werden. Ich beauftragte Professor Gottfried Böhm in Köln, den Reichstag so umzubauen, daß er nach einer deutschen Wiedervereinigung sofort als gesamtdeutsches Parlament genutzt werden könnte. Selbstverständlich sollte er wieder von einer Kuppel gekrönt werden, in den sechziger Jahren hatte man ja auf eine Kuppel verzichtet.

Warum wurde Ihr beziehungsweise Böhms Modellvorschlag nicht verwirklicht?

Schneider: Weil nach der Wiedervereinigung dann ganz neu geplant wurde.

Die meisten Deutschen halten den britischen Star-Architekten Norman Foster für den Schöpfer der neuen Kuppel auf dem Reichstag. Die Wahrheit aber ist, Sie haben die Kuppel durchgesetzt.

Schneider: Das stimmt, und zwar gegen den heftigen Widerstand Norman Fosters, der sich mit Händen und Füßen gegen eine Kuppel wehrte, sowie gegen den Widerstand zahlreicher Abgeordneter des Deutschen Bundestags.

Schließlich konnten sich die Kuppel-Befürworter 1994 unter Ihrer Führung mit der denkbar knappen Mehrheit von nur einer einzigen Stimme in der Baukommission des Ältestenrates durchsetzen.

Schneider: Ja, jedoch hat Foster dann die von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP erzwungene Kuppel architektonisch realisiert. Insofern ist zwar nicht er, wie mancher denkt, der Vater der Kuppel, aber ihr Architekt.

Die „FAZ“ hat später Ihnen den Ehrennamen „Vater der Kuppel“ verliehen. Sie haben in Ihrem 2006 erschienenen Buch „Der Kampf um die Kuppel“ berichtet, wie schwer es war, diese durchzusetzen.

Schneider: Foster argumentierte, eine Kuppel stünde für das 19. Jahrhundert, für die Kaiserzeit. Es ist aber falsch, die mehr als zweitausendjährige europäische Tradition des Kuppelbaus darauf zu reduzieren. Foster wollte den Reichstag dagegen unter einem riesigen Baldachin verschwinden lassen. Der Spiegel schrieb diesbezüglich einmal von einem überdimensionalen „Tankstellendach“ – und obendrauf lauter „Ufos“, Zylinder und Klimbim. Foster plante rein funktional-rational, seine Planungsvorstellungen waren technizistisch geprägt, auf geschichtliche und stadträumliche Umstände hat er nicht geachtet.

Warum ist die Kuppel für die politische Architektur unserer Hauptstadt so wichtig?

Schneider: Das Reichstagsgebäude benötigte schon allein aus der Proportionalitätslehre der Architektur heraus wieder eine Kuppel. Mit dieser hat es seine Mitte und Harmonie zurückgewonnen. Außerdem: Traditionell ragten drei Kuppeln in den hauptstädtischen Himmel: Die des Domes, des Schlosses und des Reichstages. Erst wenn diese, inklusive der Schloßkuppel, wiederhergestellt sein werden, wird Berlin in seinem alten sakralen und profanen Dreiklang erstrahlen, der wesentlich zu Berlins urbanem Ruhm und metropolem Reichtum beigetragen hat. Im Reichstagsgebäude repräsentieren die gewählten Abgeordneten den Souverän, das deutsche Volk. Diese Stellvertreterfunktion zwingt zu einer angemessenen baulichen Repräsentation. Was in Monarchien, Fürstentümern und Stadtrepubliken eine Selbstverständlichkeit war, muß auch in einer Demokratie eine Selbstverständlichkeit sein: Der Sitz des Königs war das Schloß, der Sitz des Landesherren das Palais, der Sitz der Bürgervertretung das Rathaus. Demokratie ist die Staatsform der Volksherrschaft. Gerade sie darf auf Symbole und äußere Formen der Staatsmacht nicht verzichten. Das Parlament ist die Herzkammer der Demokratie! Und deshalb muß über Berlin seine Kuppel leuchten!

Die „FAZ“ schrieb: „Dank der Kuppel ist der Reichstag erstmals richtig populär.“

Schneider: Ja, aber vor allem ging es bei dem Kampf um die Kuppel um die Frage nach unserem historischen Selbstverständnis. Denn zweifellos war es die Absicht Fosters und der zahlreichen Abgeordneten, die seinen Entwurf unterstützten, die Architektur des Reichstages zu neutralisieren, ihre Wirkung regelrecht zu zerstören.

Also war das Ringen um die Kuppel auch ein Ringen der Auffassung, daß die Deutschen sich mit der eigenen Geschichte identifizieren sollen, gegen die Haltung, daß sie sich von dieser zu distanzieren hätten?

Schneider: So verstand ich den Widerstand der Kuppelgegner. Ich dagegen sah in der Reichstagsarchitektur ein historisches Vermächtnis, das aus der Geschichte auf uns gekommen ist. Dieses Vermächtnis ist zu erfüllen, und der Planung Fosters fehlte die historische Legitimation. Es war also die Pflicht des Bauherren, des Deutschen Bundestags, seine Bauherrenpflicht gegen den Willen des Architekten durchzusetzen. 

Was steckt hinter der Gegnerschaft zu Ihrer Haltung – Angst vor dem Pathos?

Schneider: Oh ja. Denken Sie doch nur etwa an die Widmung über dem Reichstagsportal „Dem deutschen Volke“. Die Widmung „Der Bevölkerung“ halte ich für überflüssig und historisch abwegig.

Braucht Staatsarchitektur denn Pathos?

Schneider: Ganz sicher, auch wenn man das auf verschiedene Weise zum Ausdruck bringen kann. Der neue Plenarsaal von Peter Behnisch in Bonn aus Glas und Stahl etwa ist ganz sicher eine respektable Leistung. Auch ich teile dessen Auffassung, daß das Parlament transparent sein soll. Andererseits schrieb schon Rainer Maria Rilke in seinem „Stundenbuch“: Die Menschen in den Städten „dienen in Kulturen und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß, … und lärmen lauter mit Metall und Glas“. Der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat einmal gesagt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Es gibt also eine gewisse Metaphysik unserer historischen Staatsidee. Es gibt ein Ius Divinum und ein Ius Humanum, also ein göttliches und ein irdisches Recht, und der Mensch ist sowohl dem einen wie dem anderen unterworfen. Unser Grundgesetz beginnt nicht umsonst mit einer Advocatio Dei, also einer Anrufung Gottes: „In Verantwortung vor Gott …!“ Diese Transzendenz bedarf der künstlerischen Transformation – vor allem auch in der staatlichen Baukunst. Staatsbauten von bleibender Bedeutung müssen also von dieser Metaphysik zumindest angehaucht, wenn nicht ganz durchweht sein!

 

Dr. Oscar Schneider war von 1982 bis 1989 Bundesbauminister im Kabinett Kohl und als Vertrauensmann des Kanzlers Gründungsvorsitzender der Kuratorien der Stiftungen des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin sowie des Hauses der Geschichte und der Bundeskunsthalle in Bonn, denen er von 1985 bis 1999 vorstand. Der CSU-Politiker gehörte 34 Jahre, bis 1991, dem Landesvorstand seiner Partei und 25 Jahre, bis 1994, dem Deutschen Bundestag an. Hier leitete er zunächst den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und war dann kulturpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Gegen den Widerstand des Architekten Norman Foster und großer Teile des Bundestages setzte der „Feuilletonist unter den Ministern“ (FAZ) 1994 den Bau einer Kuppel für den neuen Reichstag durch. 2006 veröffentlichte er sein Buch  „Kampf um die Kuppel. Baukunst in der Demokratie“ (Bouvier). Geboren wurde der Jurist 1927 nahe Nürnberg.

Foto: Reichstag bei Nacht: „Es gibt eine gewisse Metaphysik unserer historischen Staatsidee ... Staatsbauten von bleibender Bedeutung müssen davon angehaucht, wenn nicht durchweht sein“

 

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