© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

Kanonenfutter in der Brennkammer
Wehrpflicht: Thorsten Hinz Anfang der achtziger Jahre bei der Nachrichtentruppe der Volksmarine der DDR /JF-Serie, Teil 9
Thorsten Hinz

In der elften Klasse, 1979, hatte sich die Hoffnung erledigt, daß die DDR die Wehrpflicht lockern und mir den „Ehrendienst“ in der NVA ersparen würde. Für mich hieß das: drei Jahre! Nicht primär wegen des massiven Drucks, sondern weil der Zugang zum Wunschstudienfach Germanistik strikt begrenzt war. Da empfahl es sich, durch verdoppelte Armeezeit die Chancen zu verbessern. Was mir bevorstand, wagte ich mir nicht auszumalen. Eines Tages wurde ich aus der Mathematikstunde zum Wehrkreiskommando bestellt. Dort wurde mir eröffnet, daß es eine Verschwendung wäre, mich durch den Schlamm robben zu lassen. Ich sei für die Nachrichtentruppe, Chiffrier- und Verschlüsselungsdienst, ausersehen: Stets ein Dach überm Kopf, dafür aber absolute Geheimhaltung! – Kein Problem! Ich fühlte mich schon halb gerettet.

November 1981, Unteroffiziersschule, Nachrichtenausbildungszentrum in Frankfurt/Oder. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg! Nicht zu wollen war allerdings unmöglich. Am Ende erreichte ich, der Unsportliche, sogar auf der Sturmbahn die Note 1. Auf der Chiffriermaschine überbot ich locker die Norm von 135 Anschlägen pro Minute. Mein Zugführer, ein junger Leutnant, rief mich zu sich: Ich hätte wohl bemerkt, seine Ausdrucksweise sei nicht immer glücklich, die Orthographie nicht die beste. Ob ich die fälligen Beurteilungen schreiben würde? Unter dem Siegel der Verschwiegenheit natürlich! Drei- oder viermal, während die anderen durch die Gegend keuchten, saß ich an seinem Schreibtisch.

Frühjahr 1982, Kommando Volksmarine in Rostock. Hier war ich der Herr – nein, der Sklave einer Telefonvermittlung und 20 monströser Geräte zur Sprachverschlüsselung. Ich vermittelte Offiziere und Admiräle an die Flottillen, nach Berlin, nach Polen, sehr selten auch nach Moskau. 24-Stunden-Dienste im Drei-Tage-Rhythmus, der sich häufig auf zwei Tage verkürzte. Der tägliche Aufklärungsbericht, der chiffriert nach Berlin geschickt wurde, vermerkte an den Wochenenden bei der Bundesmarine leere Kasernen. Unsere dagegen waren voll. Jederzeit gefechtsbereit! Ich las Goethe, Tolstoi, Flaubert.

Im Ernstfall würde die Admiralität den Hauptgefechtsstand (HGS), einen Atombunker südöstlich von Rostock, beziehen, der theoretisch dreiwöchige Autarkie ermöglichte. Bei der Kommandostabsübung „Sojus 83“ herrschte in den Schlafräumen bereits nach drei Tagen säuerlicher Gestank. Mein Einsatzort sollte die Rückwärtige Führungsstelle (RFS) bei Rostock sein, eine ehemalige Ziegelei, die weder über Bunker noch Splittergräben verfügte. Eine kleine Rakete hätte gereicht, um uns zu pulverisieren. Die Büros und Technik-räume befanden sich in den in Brennkammern, eine Frischluftzufuhr gab es nicht, die überhitzten Geräte spielten verrückt. Wir hatten keine eigenen Drahtverbindungen zu den Flottillen, sie mußten über die Nachrichtenzentrale in Rostock (ein klassisches Erstschlagsziel) oder über den HGS (dito) hergestellt werden, dessen Verbindungen permanent überlastet waren: Absurditäten, die von den Manöver-Lageberichten, die der Fernschreibdienst absetzte, noch überboten wurden: Norddeutschland war grenzüberschreitend eine Atomwüste und wir das Kanonenfutter.

Mitten im Manöverchaos las ich Stendhals „Rot und Schwarz“. Julien Sorel wird verbotenerweise während der Arbeitszeit mit einem Buch erwischt. Als der Kompaniechef den Roman auf meinem Schoß entdeckte, glich er Juliens wutentbranntem Vater: Um Krieg und Frieden gehe es hier! Ich nähme wohl überhaupt nichts ernst? Mein Argument, es klappe doch alles tadellos, ließ er nicht gelten. Er fühlte sich persönlich beleidigt.

Hätte die Armeezeit nach 18 Monaten geendet, würde sie mir rückblickend vielleicht als pädagogische Provinz erscheinen. Doch die Zeit dehnte sich endlos, qualvoll bis Oktober 1984. Ein Bulgarienurlaub sollte eine innere Zäsur setzen. Ein Typ, den ich immer gemieden hatte, fragte mich nach dem Zweck der Reise. Der Widerwille, der mich gewöhnlich zur Vorsicht mahnte, ließ mich nun leichtsinnig werden. Ich lachte: „Die Grenze zur Türkei!“ Die Wochen bis zur Entlassung lachte ich dann nicht mehr. Meine Abschlußbeurteilung lautete: Fachlich einwandfrei, doch ohne „sozialistisches Wehrmotiv“! Das stimmte aufs Wort. Das Feindbild des DDR-Staates war nicht das meine. Dazu war ich zu skeptisch und wohl auch zu nett.

Name: Thorsten Hinz

Dienstzeit: 11/81-10/84

Dienstgrad: Maat

Einheit: Volksmarine

Garnison: Frankfurt/O., Rostock

Foto: Thorsten Hinz  während seiner Zeit bei der Marine: Goethe, Tolstoi, Flaubert

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