© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

Tschö mit ö
20 Jahre Bonn-Berlin-Debatte: Schluchzende Rheinländer im Plenarsaal, als Berlin die Mehrheit erhielt
Karl Feldmeyer

Es war am 20. Juni 1991. Im Bonner Wasserwerk, provisorischer Tagungsort des Bundestags bis zur Fertigstellung des neuen Plenarsaals, hatte den ganzen Tag über die Schlacht um die neue Hauptstadt des wiedervereinten Deutschland  getobt. Sollte aus Bonn, das sich seit 1949 als provisorische Hauptstadt bezeichnet hatte, nun die eigentliche deutsche Hauptstadt werden, wie es sich die meisten Bonner und viele Abgeordnete wünschten, oder sollte Berlin wieder in seine alten Rechte eingesetzt werden? Das war die Frage, um die seit neun Uhr gestritten worden war. Nun, zwei Stunden vor Mitternacht, stand den Saaldienern des Bundestages, eingesessenen Bonnern, „Bönnsche“, wie man im Rheinland sagt, die Fassungslosigkeit im Gesicht. Einige hatten sich auf die Treppenstufen zum Plenarsaal gesetzt und schluchzten. Für sie und für die Bonner  war eine Welt zusammengebrochen – und das ganz unerwartet, denn schon am Vorabend der entscheidenden Debatte und der sie beendenden Abstimmung, begannen die Bonner ihren erwarteten Wahlsieg zu feiern, galt die Mehrheit für Bonn doch als sicher. In der Landesvertretung von Berlin aber hatte man in Vorwegnahme der erwarteten Abstimmungsniederlage beim abendlichen Empfang für die Berlin-Klientel bereits versucht, Erfolgshoffnungen zu dämpfen und die Menge mit moderaten Tönen auf die erwartete Niederlage einzustimmen. Berlin hatte ja Übung im Umgang mit Nacken- und Schicksalsschlägen. Mit 338 gegen 320 Stimmen hatte sich dann aber überraschenderweise die Mehrheit  für Berlin entschieden. Ob es tatsächlich Schäubles fulminantes Plädoyer für Berlin war, das den Ausschlag gab, steht dahin. Jedenfalls brachte Schäuble Berlin Auftrieb, während Bundeskanzler Kohl, der wieder einmal abgewartet hatte, bis er meinte, das Ergebnis der Debatte erkennen zu können, nach Schäuble eine windelweiche Rede hielt, in der er sich zwar letztlich für Berlin aussprach, aber so gequält, daß kein Zweifel aufkam, wo seine Sympathien „eigentlich“ hinneigten: nach Bonn.

Wer aber war für die Überraschung  der 18-Stimmen-Mehrheit verantwortlich? Alle großen Parteien, CDU, CSU, SPD hatten mit der Mehrheit ihrer Abgeordneten für Bonn gestimmt – und dennoch reichte es nicht. Es war die PDS, die letztlich den Ausschlag gab – nicht allein, sondern mit der FDP. Die FDP-Fraktion stimmte zwar nicht geschlossen, wohl aber mit deutlicher Mehrheit für Berlin. Wie immer man sonst zu der einstigen PDS stehen mag: Ohne den damaligen Vorsitzenden Modrow und seine Fraktion wäre Berlin heute die größte deutsche Provinzstadt und Bonn wäre zur definitiven Hauptstadt des vereinten Deutschland geworden!

 Zu dem Beschluß vom 20. Juni 1991 gehörte auch eine klare zeitliche Festlegung. Der Umzug nach Berlin sollte innerhalb von vier Jahren – also bis spätestens 1995 – erfolgen. Für die Herstellung der vollen Arbeitsfähigkeit in Berlin wurde ein Zeitraum von zwölf Jahren vorgegeben und klargestellt, daß mit dem Bundestag auch der – nicht präzise definierte – „Kernbereich“ der Regierungsfunktionen in Berlin ausgeübt werden sollte, während die meisten Arbeitsplätze im „Verwaltungszentrum“ Bonn verbleiben sollten. Der darin liegende Widerspruch wurde aus politischen Gründen hingenommen.

Mit dieser Grundentscheidung war es aber nicht getan. Die Regierung Kohl spielte auf Zeit. Das überwiegend katholische Rheinland und Nordrhein-Westfalen waren (und sind bis heute) die stärkste Bastion der CDU in Deutschland und dort war der Umzugsbeschluß auch außerhalb Bonns bei den meisten unpopulär. Parteipolitisch betrachtet lag es also nahe, sich mit der Umsetzung des Parlamentsbeschlusses viel Zeit zu lassen und die Stimmung im eigenen Anhang mit vielen Wohltaten – sprich Geld – für Bonn und Umgebung zu besänftigen. Vom Umzug bis 1995 sprach alsbald niemand mehr, die Regierung stellte sich taub, wenn sie jemand daran erinnerte, was der Bundestag beschlossen hatte. Den Beschluß einfach so umzusetzen: das wäre ihr zu schnell gegangen. So ließ sie erst einmal ein Gesetz ausarbeiten, das die Details regelte: das „Gesetz zur Vollendung der Einheit Deutschlands“, kurz Bonn-Berlin-Gesetz genannt. Es regelte Einzelheiten des Umzugs von Bundestag und Bundesregierung. In bezug auf die Bundesregierung war dies überflüssig, denn aufgrund der ihr zustehenden Organisationsgewalt hätte die Regierung aus eigener Kompetenz diese Entscheidungen treffen können. Aber das wäre zu schnell gegangen.

So wurde am 26. April 1994 das Gesetz verabschiedet, das nicht nur festlegte, daß zehn der 18 Ministerien ihren ersten Sitz in Bonn behalten und in Berlin nur eine Zweigstelle einrichten dürfen. Die acht Ministerien, die nach Berlin wechseln, aber müssen in Bonn einen Zweitsitz beibehalten. Ebenso wurde festgelegt, daß 65 Prozent der Arbeitsplätze der Bundesregierung in Bonn bleiben.  Für die 21.200 Arbeitsplätze, die nach Berlin wechseln,  erhielt Bonn  Ersatz: 7.000 neue Arbeitsplätze durch Bundesbehörden, die aus Berlin und dem Frankfurter Raum nach Bonn umsiedeln mußten. Den Netto-Verlust von 14.000 Arbeitsplätzen hatte Bonn, wie seine Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann (SPD) schon 1999 mitteilen konnte, zum Zeitpunkt des Umzugs längst wettgemacht. Diese positive Entwicklung konnte die Stadt seither fortsetzen. Bonn erhielt durch das Gesetz faktisch den Rang eines zweiten Regierungssitzes und den Titel „Bundesstadt“ und nicht nur „Verwaltungszentrum“.

Hinzu kam eine fürstlich bemessene finanzielle Entschädigung für den Verlust der Hauptstadtfunktion. Das Bonn-Berlin-Gesetz  schuf einen finanziellen Gesamtrahmen für den Umzug von zwanzig Milliarden Mark. Zwei Monate später aber folgte die Vereinbarung  mit der  Bundesregierung, der zufolge Bonn und die sie umgebende Region 2,81 Milliarden Mark zum Ausgleich für den Verlust erhalten sollten. Und weil die Stadt drei Milliarden forderte, legte das Land Nordrhein-Westfalen noch mal 500 Millionen drauf, um Bonn die Anbindung von ICE und S-Bahn an den Flughafen Köln-Bonn zu finanzieren. Der Umzugstermin aber blieb im Bonn-Berlin-Gesetz unerwähnt. Die Regelung dieser Frage überließ man  einer rechtlich unverbindlichen Empfehlung des Ältestenrats. Darin wurde festgestellt, der Bundestag wolle  in der übernächsten Legislaturperiode – der 14. – „möglichst früh, spätestens in der Sommerpause 2000 seine Arbeit in Berlin aufnehmen. So ist es dann auch gekommen. Im Juli 1999 zogen Parlament und Regierung nach Berlin; wobei 65 Prozent der Regierungsmitarbeiter in Bonn zurückblieben. Bei diesem teuren Anachronismus ist es bis heute geblieben.

 Trotz dieser Erfolgsgeschichte, zu der Bonn den Umzug unter materiellen Aspekten für sich gestalten konnte, hat der Verlust der Hauptstadtfunktion der lebensfrohen, saturierten Stadt am Rhein erhebliche psychologische Probleme bereitet. Eine „Rheinland-Partei“ und ein „Bund Bonner Bürger“ entstand, die sich mit diesem prestigeträchtigen Verlust nicht abfinden wollten“ und über Jahre hinweg jeden Donnerstag vor dem historischen Rathaus der Stadt demonstrierten. Inzwischen gehört allerdings das Stimmungstief der Vergangenheit an, wozu der wirtschaftliche Aufschwung, das psychologische Fingerspitzengefühl und Geschick der damaligen Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann maßgeblich beigetragen haben. Das eröffnet die Chance, die Anomalie einer auf zwei Städte verteilten Regierung endlich zu beseitigen.

 

Karl Feldmeyer war zur Zeit der Abstimmung Parlamentskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Bonn.

 

Stimmen aus der Umzugs-Debatte im Deutschen Bundestag vom Juni 1991

Norbert Blüm (CDU/CSU)

„Laßt dem kleinen Bonn Parlament und Regierung! Bonn verliert mit Bundestag und Regierung viel. Berlin gewinnt mit Bundestag und Regierung viele neue Probleme: Wohnungsprobleme, Raumordnungsprobleme, Infrastrukturprobleme. Ersparen wir Berlin den Weg in eine Megastadt! Sechs Millionen Einwohner rechnen heute schon Fachleute in wenigen Jahren für Berlin aus.“

 

Wolfgang Schäuble (CDU/CSU)

„Die Deutschen, wir haben unsere Einheit gewonnen, weil Europa seine Teilung überwinden wollte. Deshalb ist die Entscheidung für Berlin auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas.“

 

Helmut Kohl (CDU/CSU)

„Aber für mich ist Berlin eben auch immer die Chance zur Überwindung der Teilung gewesen. Ich bin sicher – ich wage diese Behauptung, die sicher von anderen angefochten wird –, ohne dieses Berlin der letzten vier Jahrzehnte und ohne das, was Berlin und übrigens auch die Berliner für uns bedeutet haben, wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen.“

 

Willy Brandt (SPD)

„In Frankreich wäre übrigens niemand auf den Gedanken gekommen, im relativ idyllischen Vichy zu bleiben, als fremde Gewalt der Rückkehr in die Hauptstadt an der Seine nicht mehr im Wege stand.“

 

Friedbert Pflüger (CDU/CSU)

„Ich habe unser Parlament lieber im Bundestag als im Reichstag und unseren Bundeskanzler lieber im schmucklosen Bau hinter der Moore-Plastik als im Kronprinzenpalais Unter den Linden.“

 

Peter Hintze (CDU/CSU)

„Jetzt ist die Zeit, in der wir zusammen mit anderen Völkern das europäische Haus bauen. Laßt uns das in dieser Zeit von einem Ort aus tun, der für eine Demokratie steht, die ihre eigentliche Zukunft, die europäische, noch vor sich hat! Laßt uns dies von Bonn aus tun.“

 

Karl Lamers (CDU/CSU)

„Wie kommt es denn, daß keine Stadt so zwiespältige Gefühle hervorruft wie Berlin? Ist Berlin denn wirklich das richtige Symbol für die Einheit?“

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