© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

Das Volk in Bewegung setzen
Mit dem Turnfest in der Berliner Hasenheide im Juni 1811 gab Friedrich Ludwig Jahn einen Anstoß zur Befreiung und Einigung Deutschlands
Karlheinz Weissmann

Mir ist noch das Stutzen in Erinnerung, als ich zum ersten Mal „Sport“ in den Stundenplan schrieb. Das war in der 5. Klasse der weiterführenden Schule, bis dahin hatte es „Turnen“ geheißen. Der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen war mir sowenig klar wie meinen Klassenkameraden, und auch die meisten Zeitgenossen hätten wohl Schwierigkeiten gehabt, ihn zu erklären. Kaum jemand wußte noch, was es mit der scharfen Unterscheidung zwischen dem deutschen Turner und dem angelsächsischen sportsman auf sich hatte, die bis in die Zwischenkriegszeit eine ideologische Rolle gespielt hatte, wenngleich auch da die Grenzen schon verschwammen, man unter dem Eindruck des breiten Interesses an den Olympischen Spielen lernte, Zugeständnisse zu machen.

Trotzdem hatte sich immer etwas erhalten von der Erinnerung daran, daß dem Turnen ein anderer Anspruch innewohnte als dem „Höher – Weiter – Schneller“. Der heute nur noch spöttisch so genannte „Turnvater“ Jahn formulierte den erzieherischen Anspruch des Turnens in seiner zuerst 1810 erschienenen Schrift „Deutsches Volkstum“: „Die Leibesübungen sind ein Mittel zu einer vollkommenen Volksbildung, was die Probe der Zeit und die wieder unter den beiden Mustervölkern der Antike ausgehalten hat.“

Griechen wie Römer, so Jahn, hätten die Bedeutung der körperlichen Ertüchtigung verstanden, nicht nur aus dem Wunsch heraus, den einzelnen bei Gesundheit zu erhalten, sondern auch, weil sie auf Bürgerheeren beruhten, in denen der Arme wie der Reiche zu dienen hatte, und die ohne Kraft und Gewandtheit, Ausdauer und Zähigkeit des einzelnen ihre Aufgabe nicht erfüllen konnten: „Eine wahre Volkserziehung muß die Vorarbeit für künftige Vaterlandsverteidiger ebenso wohl übernehmen, als andere Ausbildung ...“

Jahn war im Grunde kein Theoretiker, wenngleich das „Deutsche Volkstum“ einen erheblichen Einfluß auf Schüler und Studenten ausübte, ihm ging es um Praxis. Das erklärt auch, weshalb er kurz nach Erscheinen des Buches die Vorbereitungen einleitete für die Schaffung eines Turnplatzes an der Hasenheide bei Berlin. Am 19. Juni 1811 fand die Einweihung statt, und in der Folge entstand hier das erste Übungsfeld für das Turnen. Die Irritation der Berliner Gesellschaft war erheblich, daß Hunderte junger Männer sich öffentlich und in Gemeinschaft körperlich übten, ohne daß es Zwang oder Broterwerb verlangten, ohne die Finesse kavaliersmäßiger Eleganz. Zweifellos gab es einen Zusammenhang zwischen der neuen Art von Leiblichkeit, die hier zum Ausdruck kam, und dem, was die Romantik an Vorstellungen über das natürliche Leben hervorgebracht hatte, aber die konventionelle Sittsamkeit neigte trotzdem zur Entrüstung.

Noch problematischer erschien der weltanschauliche Hintergrund. Ernst Moritz Arndt, ein Freund Jahns, hat in seiner Verteidigung des Turnwesens das festgehalten, was die Ankläger vorbrachten: „1. das Turnen schadet den Leibern mehr, als es sie stärkt: es schwächt die Gesundheit, 2. es schadet den guten Sitten, 3. es ist unchristlich, 4. es bildet ein freches, wildes, aufrührerisches Geschlecht, das dem Staat gefährlich ist; die Turnplätze sind die Katheder, wo Lehren ausgesäet werden, die einmal alles umkehren müssen.“ Arndts Schrift erschien 1818, da war die Situation gegenüber den Anfängen des Turnwesens deutlich verändert, Napoleon besiegt, seine Satrapen vertrieben, Deutschland befreit.

Jahn hatte wie viele seiner Anhänger als Freiwilliger im Lützowschen Freikorps am Kampf teilgenommen, er gehörte zu den Männern, die in der neuen Generation hohes Ansehen genossen, wenngleich sich neben der „Turnerschaft“ eine „Burschenschaft“ gebildet hatte, die allerdings in vielem seine Vorstellungen teilte – vor allem was den Zusammenhang von körperlicher Ertüchtigung und Wehrhaftigkeit betraf – und noch stärker als die Turner von der Idee durchdrungen war, im kleinen die kommende Volksgemeinschaft vorzubilden. Aber gleichzeitig wuchs das Mißtrauen der Obrigkeit, die – nicht zu Unrecht – die Wahrnehmung hatte, daß den Vorstellungen Jahns wie Arndts ein revolutionärer Impuls innewohnte.

Es ging in erster Linie um die implizite wie explizite Kritik an den bestehenden Verhältnissen, vor allem der Rechtsungleichheit, der fehlenden Repräsentation des Bürgers im Staat, dem Fortbestehen überlebter feudaler Ordnungen und der staatlichen Zersplitterung Deutschlands. Was Männern wie Jahn oder Arndt vorschwebte, war eine Volks-Demokratie, die dem Gedanken monarchischer Führung nicht unbedingt ablehnend gegenüberstand, aber doch darauf zielte, eine am Idealbild der antiken Polis und der germanischen Gemeinfreiheit ausgerichtete Verfassung zu schaffen. Wenn Jahn sich im „Deutschen Volkstum“ kaum mit der konkreten institutionellen Ausgestaltung befaßt hat, so lag das vor allem an der für diese Geistesrichtung typischen Annahme, daß es sehr viel weniger auf die äußere Form des politischen Ganzen ankomme, als vielmehr auf die Bildung der Volks-Genossen durch innere Wandlung.

Vieles von dem, was heute an Jahn irritiert – vom Kampf gegen „welsche“ Sitten und Fremdworte („Turnen“ leitete er von „Turnier“ ab) über seine Idee eines pangermanischen Reiches bis zu seinen Plänen für eine religiöse Generalreform –, erklärt sich aus diesem Zusammenhang. Man darf über dem Skurrilen aber nicht vergessen, daß dahinter ein Mann stand, der mit einem ungewöhnlichen Maß an Entschlossenheit bereit war, den Preis für seine Überzeugungen zu zahlen. Schon 1819 geriet Jahn in den Strudel der „Demagogenverfolgungen“, das Turnen wurde in Preußen verboten, er selbst in Untersuchungshaft genommen und 1824 zu zweijähriger Festungshaft verurteilt, das Urteil zwar kassiert, aber trotzdem blieb er bis 1841 unter polizeilicher Aufsicht.

Zu diesem Zeitpunkt war die Turner- bereits eine Massenbewegung. Dazu gehörte auch, daß sich eine Sache von Schülern und Studenten in eine Sache von Handwerkern und anderen Bürgern verwandelt hatte. Neben den Sängern und den Schützen bildeten die Turner die dritte Marschsäule der Nationalbewegung des Vormärz. Bezeichnenderweise gehen einige der ältesten erhaltenen Fahnen in den Farben Schwarz-Rot-Gold auf Turnvereine zurück. Jahn selbst hat noch die Genugtuung erlebt, in der Revolution von 1848 stürmisch als Vorkämpfer nationaler Einheit und Freiheit gefeiert zu werden. Als Abgeordneter saß er in der Frankfurter Nationalversammlung und überlebte das Scheitern auch dieses Versuchs, einen deutschen Gesamtstaat zu schaffen, nur um wenige Jahre. Er starb 1852 in Freyburg an der Unstrut, die letzten Jahre unter Polizeiaufsicht.

Jahns Vorstellungen über „Teutsche Turnkunst“ – so der Titel seines Lehrbuchs von 1816 – hatten sich zu dem Zeitpunkt längst durchgesetzt. Bezeichnend ist dabei, daß das Turnen nach deutschem Muster nur in Skandinavien und in den Randgebieten Deutschlands nachgeahmt wurde. Sonst fand es immerhin feindseligen Respekt. Pierre de Coubertin äußerte über seine Motive, die Olympischen Spiele wiederzubeleben: Es sei nur ein Teil der Wahrheit, wenn man die französische Niederlage von 1871 dem deutschen Schulmeister zuschreibe. Deutschland habe den Triumph von Sedan vor allem dem Turnlehrer zu verdanken. Das Turnen, Coubertin sprach von der „deutschen Gymnastik“, bereitete nach der Unterwerfung Deutschlands durch Napoleon dessen Wiederaufstieg vor, es „fand unmittelbar nach Jena eifrige und überzeugte Apostel, die sein Evangelium verkündeten, dann zahlreiche, lernwillige Anhänger, bereit seinen Grundsätzen zu folgen, tatkräftig in ihren Bewegungen, basierend auf strikter – mit einem Wort: militärischer – Disziplin“.

Foto: Schauturnen des „TV Jahn Neukölln“ über einhundert Jahre nach dem Turnfest in der Berliner Hasenheide: Griechen wie Römer haBen die Bedeutung der körperlichen Ertüchtigung verstanden, nicht nur aus dem Wunsch heraus, den einzelnen bei Gesundheit zu erhalten, sondern auch, weil sie auf Bürgerheeren beruhten, die ohne Kraft und Gewandtheit, Ausdauer und Zähigkeit des einzelnen ihre Aufgabe nicht erfüllen konnten

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