© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

Der Niedergang ist kein Naturgesetz
Der Soziologe Jost Bauch analysiert die politische, soziale und kulturelle Verwahrlosung in Deutschland
Thorsten Hinz

Der Konstanzer Soziologieprofessor Jost Bauch ist den Lesern der JUNGEN FREIHEIT gut bekannt. Seine Aufsätze schlagen Sichtschneisen in den Informations- und Faktenwirrwarr und sorgen für Durchblick. Nun sind sie in einem Buch versammelt, vermehrt um einige Erstveröffentlichungen sowie um Arbeiten, die an anderer Stelle erschienen sind.

Bauch sieht Deutschland absolut und relativ – im Kontext der globalisierten Welt – im Niedergang begriffen. Allerdings spricht er nicht als Geschichtsmetaphysiker aus dem Geiste Spenglers, sondern als strenger Empiriker, der sich an das statistisch Nachweisbare hält: an den Rückgang und die Überalterung der Bevölkerung, an die Überschuldung und schrumpfende Wirtschaftsleistung, an die Dysfunktionalität der Sozialsysteme. Zum einen wirken strukturelle Ursachen: Die tiefste liegt in der Herausbildung der Massengesellschaft, die den allgemeinen Transzendenzverlust durch Hedonismus kompensiert und daraus ihre Erwartungen an den Staat herleitet. Zum andern aber gibt es die tagtäglichen Fehlentscheidungen, die die destruktiven Tendenzen noch befördern, statt ihnen entgegenzuwirken.

Völlig auf Spengler verzichten kann und will Bauch jedoch nicht. Ausdrücklich zitiert er die drei wichtigsten Triebkräfte des Niedergangs, die jener herausgestellt hatte: die Flucht der Eliten aus der Technik, die Rebellion der entwurzelten Massen und den Export des „industriell-faustischen Denkens“, das einst die Exklusivität des Westens ausgemacht und seine Stärke gegenüber den anderen Erdteilen begründet hatte, sich nun aber gegen ihn wendet. Ein anderer wichtiger Gewährsmann ist – neben Max Weber und einem kritisch rezipierten Karl Marx – Arnold Gehlen, vor allem mit dem Klassiker „Moral und Hypermoral“. Die von Gehlen formulierte Entlastungsfunktion der Institutionen war – und ist – in Deutschland von besonderer Bedeutung. Den Siegeszug des Kapitalismus erlebte das parzellierte, wirtschaftlich zurückgebliebene Deutschland zunächst als Objekt durch äußeren Druck. Um mit den schweren Verwerfungen fertig zu werden, mußte ein starker Staat „als die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (Hegel) auf den Plan treten. Der Einfluß des deutschen Idealismus, der angelsächsischen Gesellschaftstheoretikern so oft unheimlich war, hatte realpolitische Gründe.

Bauchs Themenpalette ist sehr breit: Er schreibt über Staatsethik, Gesellschafts- und Gesundheitspolitik, Demographie, Ökologie und Ökonomie, über den Begriff des Politischen. Die Bundesrepublik interpretiert er als entpolitisierten Sozialstaat: außerstande, den Selbsterhalt zu organisieren, dafür bis zum Kollaps mit der Verwaltung sozialer Probleme beschäftigt.

Das bedeutet nicht, daß er an Rückzug denkt. Wir befinden uns, so Bauch, mitten in der Transformationphase vom Sozial- zum Supervisions- und Schutzstaat, wo Recht und Gesetz, statt Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat zu garantieren, den Zugriff auf die private Lebensführung erlauben. Die Verhaltensnormierung ist in vollem Gange: durch Nichtraucher-Gesetze, Antidiskriminierungsbestimmungen oder dem „Kampf gegen rechts“. Die „Political Correctness“ wird zur „Social and Behavioral Correctness“, zum „sozialverträglichen Verhalten“ erweitert. Der Staatsrechtler Hans Albrecht Hesse schrieb 1995, „daß die Kontrolle der Gefahrenvermutungen, Risikobehauptungen dem einzelnen weitgehend entzogen sind; neue Schadenspotentiale werden wissenschaftlich bearbeitet, medienspezifisch aufbereitet und politisch bewertet“. Die von Staat und Medien geschürten Hysterien anläßlich von Rinderwahnsinn, Vogel- und Schweinegrippe, Terror- und jetzt Ehec-Drohung sind hier treffgenau antizipiert. Dieser Sicherheitsstaat trägt die Fähigkeit zum Totalitarismus in sich.

Bauchs Aufsätze beschreiben eine Gemengelage, in der politische, rechtliche, soziale, demographische und kulturelle Verwahrlosungen sich gegenseitig verstärken. Die Zuwanderung verwandelt Deutschland in eine „Multiminoritätengesellschaft“, die ein großes „bellizistisches“ Potential aufweist, weil Verteilungsprobleme folgerichtig ethnisiert und politisiert werden. Denn Ausländer aus nichtwestlichen Kulturkreisen, die zwischen 25 und 35 Jahre alt sind, kosten den öffentlichen Sektor im internationalen Durchschnitt zwischen 40.000 und 50.000 Dollar. Die Versuche, durch Quoten und Kontingentierung eine Entspannung herbeizuführen, setzen Marktmechanismen und insbesondere das Leistungsprinzip außer Kraft, was wiederum die Leistungsfähigkeit der Systeme mindert. Ein Teufelskreis!

Die SPD könnte von Bauch lernen, daß man nicht beides haben kann: den gezähmten (ehemals „rheinischen“) Kapitalismus und offene Grenzen für alle. Denn während die vom Sozialstaat geschmälerte Rendite das Kapital außer Landes treibt, fühlen sich ausländische Billiglöhner vom Lohnniveau und vom Sozialsystem angezogen, was die „industrielle Reservearmee“ und den Druck auf einheimische Löhne und den Arbeitsmarkt insgesamt wachsen läßt. Durch die Hinnahme der Masseneinwanderung und der Propagierung des Multikulturalismus macht die einstige Partei der kleinen, aber aufstiegswilligen und tüchtigen Leute sich zum „nützlichen Idioten des Kapitals“. Nötig wären die Verteidigung der Souveränitätsrechte und ein neuer Protektionismus. Nicht zwangsläufig weniger, aber ein anderer Staat, lautet Bauchs Forderung!

Das beklemmende Panorama, das sein Buch entrollt, drückt den Leser trotzdem nicht nieder. Denn der Autor stellt dar, daß der Niedergang kein Naturgesetz ist, sondern sich erst durch die menschliche Trägheit verwirklicht. Die Hoffnung sie wachzurütteln, stirbt zuletzt.

Jost Bauch:           Der Niedergang. Deutschland in der globalisierten Welt. Schriften wider den Zeitgeist. Ares Verlag, Graz 2010, gebunden, 212 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Die deutschen Farben setzen Rost an: Allgemeiner Transzendenzverlust wird durch Hedonismus kompensiert

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