© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

Der Flaneur
Gebraucht werden
Felix Springer

Bei der wacklig-routinierten Ausfahrt aus dem U-Bahnhof streift ein Plakat meinen Blick und meine Aufmerksamkeit. Der Staat hat eine morgendliche Botschaft an mich: „Nichts erfüllt mehr, als gebraucht zu werden.“ Die Bahn taucht in die lange schwarze Höhle unter der Stadt, Neonlicht wirft flackernde Schatten auf die Gesichter der Berufspendler, die die rauschende Betonmonotonie auf der anderen Seite von Tür und Fenster spiegeln.

Auf dem Weg in die Großraumbüros, Imbißläden, Kioske und Serviceschalter des großen Stadtkörpers wird heißer Automatenkaffee geschluckt, elektronische Musik konsumiert oder die druckfrische Zeitung überflogen, und schmierige Metallstangen geben Halt in den Kurven. Keiner kennt jemanden. Man hält Abstand, wo es nur geht, und richtet die Augen auf die Leere des Bodens.

Der Mann an der vordersten Tür sieht aus wie jemand, der seinen Beruf ernst nimmt. Mit professioneller Geste liest er etwas auf seinem Telefon und kräuselt die Lippen leidenschaftlich. Der griffbereite Aktenkoffer ist breiter als seine mit einem lässigen Jackett bekleideten Schultern.

Ich stelle mir vor, wie er den Plakatspruch rahmt und über seinen modernen Plastikschreibtisch neben eine Provisionsvereinbarung hängt. Neben mir steht ein unrasierter langer Typ mit so einer übertrieben stabilen Intellektuellenbrille und Zwanziger-Jahre- Arbeitermütze. Er scheint in ein Buch zu starren, aber die Augen sind ihm zugefallen.

Zusammen erreichen wir alle pünktlich die nächste Station, neue Gesichter finden ihren Platz unter der Neonsonne, und die Hydraulik pfeift auf uns, dann geht es weiter. An der übernächsten Station steige ich aus und setze meinen Weg nach Hause fort. Am Bahnhofsausgang klebt neben den öffentlichen Toiletten noch mal das gleiche Plakat.

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