© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Auf Zeit gespielt
Marcus Schmidt

In Berlin geht die Angst um, die Angst vor einer Staatskrise. Dieser Eindruck verstärkt sich mit jedem Tag, mit dem der 30. Juni näher rückt. Dabei geht es nicht etwa um den drohenden Zusammenbruch des Euro angesichts der sich ständig verschärfenden Schuldenkrise Griechenlands, sondern um die nächste Bundestagswahl. Denn noch immer haben sich die Parteien nicht auf die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Neufassung des Wahlrechts geeinigt.

Die Karlsruher Richter hatten 2008 eine Regelung für verfassungswidrig erklärt, die im Zusammenhang mit den sogenannten Überhangmandaten zu einem „negativen Stimmgewicht“ führt (JF 19/11). Bei diesem Phänomen können sich Wählerstimmen gegen die Partei auswirken, für die sie abgegeben werden; umgekehrt kann es einer Partei nutzen, wenn sie nicht gewählt wird. Das Verfassungsgericht hatte dem Bundestag Zeit bis zum 30. Juni dieses Jahres gegeben. Eigentlich reichlich Zeit, um die beanstandete Passage zu überarbeiten. Doch lange geschah nichts und auch wenige Tage vor Ablauf der Frist zeichnete sich keine Einigung ab.

Die Politiker tun sich schwer mit dem Thema, denn es geht schließlich um Mandate und damit um Macht und Einfluß. Dennoch mehrten sich in der vergangenen Woche die kritischen Stimmen auch aus den Reihen des Bundestags. Schweres Geschütz fuhr dabei der rechtspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Jerzy Montag, auf. „Ab dem 1. Juli haben wir ein verfassungswidriges Wahlrecht. Damit haben wir – und das ist keine Übertreibung – eine echte Staatskrise“, sagte Montag der Berliner Zeitung. Zu der wohldosierten Steigerung der Dramatik gehörte in der vergangenen Woche auch die Wortmeldung des Bundestagspräsidenten. „Die Situation ist ärgerlich und zweifellos auch peinlich“, ließ sich Norbert Lammert von der Süddeutschen Zeitung zitieren. Niemand könne sich damit entschuldigen, man sei vom Handlungsbedarf überrascht worden, sagte der CDU-Politiker mit Blick auf die ablaufende Frist.

Deutlicher noch als die beteiligten Politiker äußerte sich in der vergangenen Woche der Berliner Staatsrechtler Ulrich Battis. Er warf Schwarz-Gelb eine „klare Mißachtung des Bundesverfassungsgerichts“ vor. „Technisch und inhaltlich betrachtet, hätte man längst eine verfassungskonforme Lösung präsentieren können“, sagte er dem Kölner Stadtanzeiger und kommt dann zum eigentlichen Kern der Auseinandersetzung: „Aber politisch gesehen ist das Wahlrecht im Kern eine Machtfrage.“ Von den Überhangmandaten profitierten die großen und nicht die kleinen Parteien. Daher wollten die einen die Überhangmandate erhalten und die anderen diese abschaffen. Es gehe um die Macht. „So einfach ist das“, sagt der Wissenschaftler.

Droht also tatsächlich eine Staatskrise. Wohl kaum. Vielmehr gehört das Hantieren mit diesem dramatischen Begriff zu den taktischen Spielen der Parteien im Kampf um eine möglichst gute Ausgangslage bei der Neuregelung. Diese wird auf jeden Fall kommen. Irgendwann.

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