© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Pankraz,
G. E. Lessing und das Nichtwissenwollen

Sehr merkwürdig: eine Tagung im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld über „Agnotologie“, womit die „Lehre vom Nichtwissen“ gemeint war. Kann man das Nichtwissen denn lehren? Jede Lehre beansprucht doch, Nichtwissen in Wissen zu verwandeln, das Nichtwissen also zum Verschwinden zu bringen. Man kann natürlich auch Lügen „lehren“, aber nur dann, wenn man als Lehrer selber nicht Bescheid weiß oder seine Zuhörer aus irgendeinem Grund bewußt in Ignoranz halten will, entweder um ihnen gewisse Unannehmlichkeiten zu ersparen oder – dieses kommt häufiger vor – eigenen Nutzen aus ihrem Nichtwissen zu ziehen.

Man spräche im zweiten Fall dann wohl besser von Herrschaftswissen statt von Nichtwissen. Die Bielefelder „Agnotologie“ drehte sich denn auch vorrangig um die Methoden und die Rhetorik jenes egoistischen Herrschaftswissens, mit dem etwa Pharmakonzerne ihren Kunden ein neues Produkt andrehen, ohne sie ehrlich über gewisse Risiken der Anwendung zu unterrichten. Es gibt heute, so erfuhr man, in der Industrie und in der Politik ganze riesige Trickkisten des vorsätzlichen Täuschens, Verheimlichens, Schönredens (oder auch Totschweigens), und darüber wissenschaftlich nachzudenken sei aller Ehren wert.

Nicht ins Blickfeld geriet das Feld des gewissermaßen wohltätigen, altruistischen Verheimlichens und Nichtwissen-Verbreitens, obwohl es kaum weniger groß sein dürfte als die eigennützigen, kriminellen Trickkisten der Politiker und Konzerne. Für unzählige Ärzte beispielsweise ergibt sich ja fast täglich die Frage: „Darf ich diesem todkranken, unheilbaren Patienten die volle Wahrheit über seinen Zustand sagen? Erleichtert ihm sein Nichtwissen nicht das gelassene Ertragen der letzten Tage?“

Überhaupt spielt das wohltätige Nichtwissen eine eminente Rolle im Verhältnis zwischen Arzt und Patient. Die richtige Therapie ist keineswegs immer identisch mit dem Mitteilen der vollen Wahrheit. Denn der Patient erwartet von seinem Arzt, daß dieser seiner Klage nicht nur die genaue Diagnose des somatischen Leidens entnimmt, sondern auch die Erkenntnis, daß der Patient voller verzweifelter Hoffnung auf Heilung ist und der Arzt das in seiner Rhetorik bitte berücksichtigen solle, daß er manchmal also die Vermittlung von Nichtwissen geradezu zu seiner Behandlungsmaxime machen solle.

Riesige Trickkisten des wohltätigen Nichtwissens sind darüber entstanden: die Placebo-Industrie, die „Heilmittel“ produziert, welche nach medizinischen Begriffen gar keine sind; es kommt nur noch darauf an, irgendwelche Klischees der Patienten zu bedienen. Kapseln sind nach deren Glauben stets wirkungsvoller als schlichte Tabletten, auch wenn sie kein Gran mehr chemischen Wirkstoff enthalten als diese, meistens überhaupt keinen. Spritzen sind immer wirksamer als Kapseln. Medikamente, die lindern sollen, müssen blau sein, Medikamente, die anregen sollen, müssen rot sein usw. usw.

Viele Wissenschaftler, gerade die besten, neigen ohnehin der Meinung zu, daß unser gesamtes menschliches Wissen, auch jenseits der Medizin, nichts weiter als ein Placebo ist, von dessen wirklichem Inhalt wir keine Ahnung haben. Gestritten wird demnach immer nur über Formen, ob Kapsel oder Spritze, ob blau oder rot. „Ich weiß, daß ich nichts weiß“, lehrte schon der große Sokrates, und dabei ist es geblieben. Wenn jetzt eine „Agnotologie“, eine „Lehre vom Nichtwissen“, eröffnet wird, so bedeutet das nichts weiter, als daß wieder einmal eine neue Produktbahn an der Maschine für Kapseln und Spritzen installiert wird.

„Zwar weiß ich viel, doch möcht ich alles wissen“, heißt es in Goethes „Faust“, doch ist es der phantasielose knickebeinige Famulus und Archivwurm Wagner, der derlei von sich gibt. Wer „alles“ wissen möchte, wer im Ernst glaubt, daß dieses „Alles“ nur eine Erweiterung und Endform des „Vielen“ ist, der weiß wirklich nichts, dem hilft auch keine Agnotologie à la Bielefeld, dem ist jede Leidenschaft des Wissenwollens abhanden gekommen. Was er nicht weiß, das macht ihn nicht wirklich heiß, und deshalb taugt auch sein angesammeltes „Wissen“ wenig.

Wissen ist nur als stetiger Wissensfluß denkbar, als kontinierliche Anverwandlung von (Teil-)Nichtwissen in (Teil-)Wissen. Das wußte etwa der notorische Vielwisser Gotthold Ephraim Lessing, von dem der wunderbare Satz stammt: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir ‘Wähle!’ – ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ‘Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!’“

Eine ziemliche Rolle spielte in Bielefeld das Thema des „überflüssigen Wissens“. Sollte man dieses nicht aus der Welt schaffen, um Platz zu machen für „notwendiges“ Wissen? Es gebe unter dem Nichtgewußten, führte einer der Redner aus, „viel unnützes Zeug“ (woher wußte er das?); eine Frage „offenzulassen“ sei doch allemal besser als „falscher Glaube“. Und ein anderer wetterte gegen die vielen „Experten“, die sich die Regierungen heute leisteten. Denn diese Experten mit ihrem vielen Wissen und der damit verbundenen Skepsis hielten die Regierung nur davon ab, rechtzeitig notwendige Entscheidungen zu treffen.

Da offenbarte sich plötzlich ein ziemlich fataler, fast totalitärer Zug der neuen Agnotologie. „Zuviel Wissen“, so lautete die gar nicht so versteckte Botschaft, „kann für politische Systeme gefährlich sein. Also weg mit dem überflüssigen Zeug! Weg mit den staatlichen Geldern für zweckfreie Grundlagenforschung und unbequeme Bedenkenhuberei! Geld nur für den, der der Politik genehm ist!“

Das aber, findet Pankraz, widerspricht frontal dem an sich selbstverständlich sein sollenden Ideal jeder Wissenschaft qua Wissensvermehrung. Solche Art von Nichtwissenwollen ist schlimmer als jede dubiose Pharma-Werbung.

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