© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Zeitschriftenkritik: Merkur
Christlich-griechische Wurzel
Thorsten Thaler

Wenn von der Wurzel Deutschlands oder Europas, wahlweise auch des Abendlandes, die Rede ist, muß es neuerdings stets die christlich-jüdische sein. Es ist eine jener Floskeln, die plötzlich Konjunktur gewinnen und fortan meist gedankenlos von allen nachgeplappert werden. Eine nachdenkliche Widerrede dazu hat jetzt der Philosophieprofessor Harald Seubert in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift Merkur formuliert. Er vermutet zunächst, daß mit diesem „Wortgespenst“ dem Postulat einer „Leitkultur“ neues Leben eingehaucht werden soll, sozusagen als Pendant zu der Aussage von Bundespräsident Wulff, wonach auch der Islam zu Deutschland gehöre. „Um diesen umstrittenen Satz annehmbar zu machen“, meint Seubert, „mußte er mit einer christlich-jüdischen Wurzel versüßt werden.“ Allerdings sei selbst für kurze Identitätsformeln die Spannung zwischen Judentum und Christentum, Altem und Neuem Bund zu groß, um ausgeblendet zu werden. Seubert verweist auf die „Feinderklärungen“ und den „latenten Antijudaismus“, der mit Rassenantisemitismus nicht gleichzusetzen sei, der insonderheit durch die deutsche Geistesgeschichte spukte, von Luther bis Thomas Mann. Deswegen könnte es „Wunschdenken sein, Einvernahme und Erschleichung, wenn die jüdische Wurzel gleichberechtigt neben die christliche gesetzt wird. Sie war eben doch nur kurze Zeit zugelassen, wenig gehegt, noch weniger geliebt und irgendwann ausgerissen.“

Identität, so Seubert weiter, sei „geronnene Geschichte“, die es ohne Scham, Schmerz und Schuld nicht geben könne. Deshalb sollten die Deutschen eine jüdische Wurzel „nicht für sich verbuchen – aus Anstand, weil gegen die historische Realität sprechend, und auch aus sachlichen Gründen“. Über Religion und Heilsgeschichte könnten sich liberale Demokratien nicht legitimieren. Identitäten des modernen Europa sollten nicht allein auf Religion begründet werden.

Als Alternative schlägt Seubert vor, die christlich-griechische Identität Europas hochzuhalten. Gerade der deutsche Geist habe seit dem 16. Jahrhundert an den Griechen maßgenommen, von Melanchton über Hegel, Schelling und Nietzsche, Klopstock und Hölderlin. Die klassisch-philologische Bildung der Eliten sei die „Volksausgabe“ der Gräkophilie gewesen; sie sei erst durch das gründerzeitliche Realgymnasium in Frage gestellt worden, ihre prägende Kraft wirkte jedoch fort. Die christlich-jüdische Identität dagegen sei eine „Chimäre, schief zur Verfassungs- und Rechtstradition der Moderne“. Nähme man sie ernst, führte sie „distanzlos“ auf religiöses Terrain, hinein in eine „babylonische Gefangenschaft“.

Daß zu der Debatte um das Buch von Thilo Sarrazin im Grunde alles gesagt ist, belegt der Aufsatz von David Goodhart. Der britische Journalist arbeitet sich überflüssigerweise noch einmal an Sarrazins Thesen ab. Allein bemerkenswert ist seine Feststellung, nirgendwo in Europa sei „die Kluft zwischen der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung so groß wie in Deutschland“. Staatliche Politik sei durch eine „linke Ideologie“ beeinflußt, in der jedoch „die Lebensgewohnheiten und Denkweisen der Menschen“ nie zum Ausdruck gekommen seien.

Kontakt: Merkur, Mommsenstraße 7, 10629 Berlin, Telefon: 030 / 32 70 94 14. Das Einzelheft kostet 12 Euro, ein Jahresabonnement 120 Euro.

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