© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Angesichts der neuerlichen Debatte über Ursache und Anlaß des Rußlandfeldzugs 1941 fällt die Erinnerung an ein anderes Datum dieses Jahres kaum ins Gewicht: Am 3. Juni erging durch Martin Bormann eine Weisung an den Chef der Reichskanzlei Lammers, die der vier Tage später an den Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Rust sowie den Minister für Volksaufklärung und Propaganda Goebbels weitergab, verbunden mit der Anordnung eines Aufführungsverbots von Schillers Drama „Wilhelm Tell“ an Theatern und Schulen. Der Vorgang erschien den Machthabern immerhin so heikel, daß er nur „streng vertraulich“ weitergegeben wurde. Und er war insofern bemerkenswert, als der Autor, sein Werk und insbesondere dieses Drama eine wichtige Rolle in der Propaganda der Kampfzeit und der ersten Regimephase gespielt hatten. Nach 1933 galt der Tell als „nationales“ Stück und wurde besonders häufig gespielt. Schlüsselzitate wie „Ans Vaterland, ans teure schließ dich an“ oder „Unser ist durch tausendjährigen Besitz der Boden“ waren als „Kernsätze“ ebenso verbreitet wie der Beginn des Rütli-Schwurs „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“. Der Tell gehörte nicht nur zum üblichen Repertoire, es handelte sich auch um das einzige Drama, das an den Volksschulen, das erste, das an den Mittelschulen und Gymnasien gelesen wurde. Es liegen leider keine Erfahrungsberichte darüber vor, wie man sich die Umsetzung des Verbots praktisch vorstellen muß. Die strenge Vertraulichkeit sollte vor allem (halb-)öffentliche Diskussionen verhindern; sicher war die Streichung vom Spielplan oder die Herausnahme aus dem Literaturkanon ohne Probleme zu verwirklichen, dagegen dürfte die geforderte Tilgung von einzelnen Passagen oder Auszügen in Lesebüchern, die auf Nachfrage der Schulleitungen befohlen worden war, unter den Bedingungen des Krieges kaum realisierbar gewesen sein.

Nun hat also noch Frau Koch-Mehrin ihren Doktortitel verloren, auch wegen der Plagiate in ihrer – nach eigenem Bekunden: schwachen – Dissertation; und der FDP-Parteifreund Bijan Djir-Sarai, seines Zeichens Bundestagsabgeordneter, steht zumindest unter Verdacht. Götz Kubitschek kam schon vor längerem mit der Idee, man sollte seinen „Dr.“ kennzeichnen, falls man ihn zu Zeiten erworben habe, als der Aufwand, sogar für die Täuschung, ein erheblicher war.

Bildungsbericht in loser Folge XI: Nachbemerkungen zur Verleihung des Deutschen Schulpreises (Gegenaufklärung, Folge 6): a) Als die Welt noch in Ordnung war und ich die ersten praktischen Unterrichtserfahrungen an der nun prämierten IGS Georg Christoph Lichtenberg (Göttingen) sammeln durfte, wäre es nie in Frage gekommen, Geld vom Großkapital zu nehmen; b) sechs Wochen nach Unterrichtsbeginn hatte ich Gelegenheit, eine Fünftkläßlerin der „besten Schule Deutschlands“ zu fragen, was sie denn bisher gelernt habe. Antwort: Lehrer-Duzen und warum es total undemokratisch ist, wenn man neben demjenigen in der Tischgruppe sitzen will, neben dem man sitzen will.

Hauptmotiv für die Ablehnung von Schillers Tell in der nationalsozialistischen Intelligenz war der Vorwurf, daß das „Separationsdrama“ die Loslösung der Schweiz vom Reich feiere. Ob sich Hitler diese Interpretation zu eigen machte, ist nicht mehr festzustellen. Den Ausschlag dürfte 1941 gegeben haben, daß das Freiheitspathos und die Rechtfertigung des Tyrannenmordes inakzeptabel schienen, verstärkt um den persönlichen Widerwillen, den Hitler gegen die Schweizer empfand, die nicht nach dem Muster der Österreicher „anzuschließen“ waren. In demselben Jahr feierten sie außerdem den 650. Gründungstag der Eidgenossenschaft, selbstverständlich mit Verweis auf die symbolische Figur des Tell; und zuletzt gab es noch die neue Einsicht in imperiale Zwänge; Goebbels notierte jedenfalls 1943 in seinem Tagebuch: „Der Führer verteidigt (…) die Politik Karls des Großen. Auch seine Methoden seien richtig gewesen. Es ist gänzlich falsch, ihn als Sachsenschlächter anzugreifen. Wer gibt dem Führer die Garantie, daß er später nicht einmal als Schweizer-Schlächter angeprangert wird!“

Um die Aversion gegen „Europa“ dauernd zu nähren, würde es reichen, dem Bürger regelmäßig die Straßenzüge in Brüssel zu zeigen, an denen die Verwaltungsgebäude der EU stehen. Beides, Aufwand und Gesichtslosigkeit der Architektur, haben symbolische Qualität.

Es gibt zu dem Tell-Verbot von 1941 ein merkwürdiges Pendant aus dem Jahr 1923. Als belgische und französische Truppen das Ruhrgebiet besetzten, wurde die Aufführung von Schillers Drama durch die Militärbehörden in Wiesbaden, Koblenz, Essen und Bochum untersagt, weil es in den Theatern immer wieder zu Demonstrationen der Zuschauer gekommen war, die sich erhoben und den Rütli-Schwur mitsprachen.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 8. Juli in der JF-Ausgabe 28/11.

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