© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Totentanz
Endzeit-Drama: Peter Fleischmanns Film „Die Hamburger Krankheit“ ist auf DVD erschienen
Harald Harzheim

Nachdem die Pest dank Antibiotika aus Europa verbannt wurde, lebte sie als Metapher in den Künsten fort: als Symbol gesellschaftlicher Fäulnis (Antonin Artaud: Das Theater und die Pest, 1932) oder als existentielle Herausforderung (Albert Camus: Die Pest, 1947). Oder man kreierte Phantasie-Seuchen wie George A. Romero in „Crazies“ (1973), wo ein Virus den Vorwand liefert, totalitäre Notverordnungen auszurufen.

1978 zeigte Werner Herzog in dem Horrorfilm „Nosferatu – Phantom der Nacht“ den Untergang bürgerlicher Ordnung durch eine Pestepidemie. Sein Darsteller, der Schockgraphiker Roland Topor, schrieb im Jahr darauf am Drehbuch zu dem Endzeit-Drama „Hamburger Krankheit“. Als dieser Film Ende 1979 in die (Programm-)Kinos kam, wurde er fast völlig verrissen. Als immerhin „beachtlich“ aber stufte ihn der einflußreiche Filmkritiker Hans-Christoph Blumenberg ein. In der Zeit schrieb er, „der chaotische Film über chaotische Zustände“ sei „erheblich reizvoller, ungewöhnlicher und intelligenter als es die vielen Verrisse vermuten lassen“. Doch Regisseur Peter Fleischmann, seit der Verfilmung des Theaterstücks „Jagdszenen aus Niederbayern“ (1969) und „Dorotheas Rache“ (1974) prominenter Vertreter des „Neuen Deutschen Films“, geriet in Vergessenheit. Ob zu Recht oder Unrecht, läßt sich jetzt anhand einer DVD-Edition der „Hamburger Krankheit“ überprüfen.

Es beginnt auf einem Forscherkongreß in der Hansestadt. Während der Gerontologe Ellerwein (Helmut Griem) vom wissenschaftlichen Fortschritt und ewigen Leben redet, bricht ein Teilnehmer zusammen: der Beginn einer unbekannten Seuche, deren Opfer in regressiver Embryo-Haltung sterben. Mitten auf der Straße, urplötzlich, sinken Menschen in sich zusammen. Die Ärzte finden keine Ursache, die Politik will aber „irgendwie“ handeln: Sicherheitskräfte mit Gasmake und Schutzkleidung patroullieren wie Monster durch leere Straßen. „Gesundheitslager“ werden errichtet, Pseudo-Impfstoffe verwandeln Betroffene in aggressive Bestien, die sich gegenseitig zerfetzen.

Ein prolliger Imbißbudenbesitzer (Ulrich Wildgruber), ein exhibionistischer Anarchist im Rollstuhl (gespielt von Fernando Arrabal, dem berühmten Dramatiker des Absurden), die feenhafte Ulrike (Carline Seiser) und Ellerwein entfliehen der Stadt, fahren mit einem Transporter über Landstraßen nach Bayern. Es wird eine Reise durch ein Wahnsinns-Land. Das 20. Jahrhundert wandelt sich unter Einfluß der Seuche in ein neues Mittelalter.

Parallel zum Chaos des Geschehens mixt Regisseur Fleischmann die Stilrichtungen, entzieht den Film jeglicher Zuordnung. Wenn Ulrike auf einer Weltuntergangsparty mit einem Gast im Skelettkostüm tanzt, verschmelzen Romeo-Horror und mittelalterlicher Totentanz. Wenn eine bayerische Bürgerwehr mit federgeschmückten Lodenhüten Jagd auf Infizierte macht, glaubt man Herbert Achternbusch in der Nähe.

Natürlich hat Fleischmanns surrealer Wahnsinn Methode: Als der Imbißbudenbesitzer in die Menge der Partygäste ballert, verstummen diese augenblicklich. Sein Kommentar: „Wenn man ins Chaos schießt, stellt sich zwangsläufig eine Ordnung ein.“ Ins Universalistische übersetzt: Alle übergreifende Ordnung ist Konstrukt, eine Reaktion auf existentielle Angst. Uns aber bleibt – trotz aller Unsicherheit – solch „romantischer“ Ausweg vorerst verschlossen: Nach der Postmoderne liegt die „Zersplitterung des Weltgeistes“ (Hegel) in der Luft, scheinen biologischer und sozialer Kosmos aus inkompatiblen Einzelteilen zu bestehen, nur fragmentarisch beschreibbar. Ergo: Die Zeit ist reif für diesen Film.

DVD: Die Hamburger Krankheit. Arthaus, Laufzeit etwa 109 Minuten; Zweitausendeins, Edition Deutscher Film, 7,99 Euro

Foto: Carline Seiser in „Die Hamburger Krankheit“ (1979): Reise durch ein Wahnsinns-Land

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