© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Man ist Stalin zuvorgekommen
Serie Präventivkrieg Barbarossa, Teil IV und Schluß: Wenn das kein Präventivkrieg gewesen sein soll, hat dieser Begriff seinen Sinn überhaupt verloren
Stefan Scheil

Ein Präventivkrieg richtet sich gegen eine als solche erkannte Bedrohung und ist Ausdruck einer „berechtigten Furcht“. In den Debatten um den deutschen Angriffsbefehl für das Jahr 1941 wurde und wird häufig entweder das Vorhandensein von Furcht auf deutscher Seite bestritten oder der Grund für eine solche Furcht abgestritten, nicht selten auch beides gleichzeitig. Tatsächlich haben Furcht und Sorge vor einem möglichen sowjetischen Angriff die deutsche Führung frühzeitig beschäftigt.

Nach dem Abschluß der militärischen Operationen in Polen gab es schon 1939 schnell erste Analysen darüber, welche militärischen Möglichkeiten sich aus der neuen Grenzziehung für die Sowjet­union ergaben. Am 20. Oktober 1939 befahl der Oberbefehlshaber des Heeres den Aufbau einer ersten Sicherungslinie, an der ein möglicher russischer Angriff abgewiesen und der Aufmarsch von Verstärkungen gesichert werden konnte. Dies entsprach dem zuvor geäußerten Mißtrauen Hitlers, ob die UdSSR den gerade geschlossenen Nichtangriffspakt auch halten werde.

Mitte November folgten Äußerungen wie die des früheren Generalstabschefs Ludwig Beck, der die außerordentliche Stärkung der UdSSR wegen der neuen Grenzziehung feststellte und von einer „Inbewegsetzung des russischen Kolosses“ nach Westen sprach, die noch nicht zum Stillstand gekommen sei. Der aktuelle Generalstabschef Franz Halder gab dann Ende November eine Denkschrift in Auftrag, die das Problem genauer beleuchtete. Generalmajor Karl-Adolf Hollidt sah dies recht düster. Mit einem Angriff konnte durchaus gerechnet werden, die UdSSR sei jedenfalls dazu in der Lage. Sie sei sogar in der Lage, einen Zweifrontenkrieg zu führen. Ob der Krieg mit einem „Sichelschnitt“ gegen die deutschen Truppen eröffnet werden würde, wie ihn Schukow eineinhalb Jahre später plante, war er sich nicht sicher. Er machte aber die untere Weichsel, das oberschlesische Industriegebiet und dann die Oderlinie oberhalb Breslaus als Etappen des sowjetischen Angriffs aus, traf also recht exakt die Gedanken Schukows.

Eine Planstudie des Oberkommandos des Heeres von Mitte November zog bereits einen größeren sowjetischen Angriff in Erwägung. Angebracht war es allemal, besonders die sowjetische Entscheidungsfindung genau zu beobachten, ebenso wie die neu entwickelten Fähigkeiten der Roten Armee. Dennoch hielt der deutsche Generalstab eine russische Offensive noch nicht für wahrscheinlich, auch wenn bereits festgestellt wurde, daß die Sowjets Truppen nach Westen verlegten.

Die Abteilung Fremde Heere Ost arbeitete auch nach dem 22. Juni 1941 weiter daran, sorgfältig zu analysieren, in welche Richtung der russische Aufmarsch gezielt hatte und welche Dimensionen er angenommen hatte. Nach zweijähriger Analyse stand im Jahr 1943 das Ergebnis fest. Alle Beobachtungen und nachträglichen Feststellungen über die Transportkapazität im Westteil Rußlands erzwangen demnach die Schlußfolgerung, „daß fast die gesamte verfügbare Streitmacht der SU in einer Monate dauernden Bewegung aus dem Innern Rußlands an die deutsche Ostfront herantransportiert worden war. (...) Schwerpunkte lassen deutlich die Absicht erkennen, durch Vorstoß in allgemeiner Richtung Litzmannstadt die in dem vorspringenden Teil des Generalgouvernements stehenden deutschen Kräfte einzukesseln und zu vernichten, und bei günstiger Entwicklung der Lage im Norden durch Vorstoß in Richtung Elbing Ostpreußen vom Reich zu trennen.“

Der „größte Aufmarsch der Geschichte“ machte sich an der russischen Westgrenze bereit. Wenn es nicht gelang ihn zu stoppen, war sowieso „alles verloren“, wie Hitler am 8. Juni 1941 im Gespräch mit Walter Hewel bilanzierte: „‘Schweres Entschließen’, aber vertraue auf die Wehrmacht. Luftflotte: Jäger und Bomber zahlenmäßig überlegen. Etwas Angst für Berlin und Wien. Besetzungsgebiet nicht mehr wie von Dänemark bis Bordeaux. Haben ihre ganze Kraft an der Westgrenze. Größter Aufmarsch der Geschichte. Wenn es schiefgeht, ist sowieso alles verloren.“

Die Beantwortung einer ganzen Reihe von Fragen erlaubt ein Urteil, ob das Unternehmen Barbarossa im oben definierten, engeren Sinn als Präventivkrieg aus „begründeter Furcht“ bezeichnet werden muß:

Bestand zwischen beiden Staaten ein machtpolitisches Konkurrenzverhältnis, das in der Vergangenheit bereits zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt hatte? Ja.

Bestanden zusätzlich religiöse oder ideologische Gegensätze zwischen beiden Staaten, die geeignet waren, kriegerische Verwicklungen auszulösen? Ja.

Wurde nachweislich in der Führungsspitze der UdSSR über überfallartige Angriffe auf Europa beraten? Ja.

Befürchtete der spätere Kriegsgegner Deutschland einen solchen Angriff bereits Jahre vor dem Kriegsausbruch in öffentlichen wie internen Äußerungen seiner Verantwortlichen? Ja.

Begründete er seine eigene Aufrüstung mit der Abwehr einer sowjetischen Angriffsdrohung? Ja.

Hielt der spätere Angreifer im Herbst 1939 die Rote Armee für fähig, einen Angriffskrieg zu führen? Ja.

Wurden im Sommer 1940 bereits deutsche Streitkräfte aus Furcht vor einem sowjetischen Angriff mobilisiert? Ja.

Lag diese Mobilisierung zur Verteidigung zeitlich vor der ersten Äußerung des deutschen Staatschefs über einen möglichen deutschen Angriff auf die UdSSR? Ja.

Gibt es Aussagen sowjetischer Diplomaten, wonach zu diesem Zeitpunkt die Botschaft in Berlin bereits Überlegungen für den Fall der Ankunft der Roten Armee in Deutschland anstellte? Ja.

Hielt die Führung der Roten Armee eine erfolgreiche Offensive gegen die deutschen Streitkräfte für möglich? Ja.

Legte der Generalstabschef der Roten Armee wenige Tage nach dieser Ankündigung einen Angriffsplan vor, der die Vernichtung der deutschen Streitkräfte in Polen und die Eroberung Oberschlesiens innerhalb von 30 Tagen vorsah? Ja.

Wurde dieser Angriffsplan damit begründet, daß die Streitkräfte des deutschen Gegners den sowieso bestehenden eigenen Angriffsabsichten zuvorkommen könnten? Ja.

Enthält dieser Angriffsplan Angaben darüber, daß Befehle für den Übergang zum Angriff der eigenen Steitkräfte bereits gegeben seien? Ja.

Wurden zu diesem Zweck auch Veränderungen in der Infrastruktur vorgenommen, so wie die grenznahe Anlage Hunderter neuer Flugplätze? Ja.

Gab der Staatschef des späteren Angreifers die vorhandenen grenznahen Flugplätze als sicheres Indiz für eine gegnerische Angriffsabsicht an? Ja.

War die Rote Armee im Sommer 1941 in einer möglichen Angriffsposition aufmarschiert? Ja.

Wurde dies im deutschen Generalstab erkannt und als mögliche Drohung interpretiert? Ja.

Registrierte dies der Staatschef des späteren Angreifers zu dieser Zeit und in privatem Rahmen als in der ganzen Geschichte noch nie dagewesene Bedrohung? Ja.

Angesichts der vorliegenden Fakten für das Jahr 1941 und der Vorgeschichte des sowjetisch-deutschen Konflikts bleibt ein Fazit: Wenn das Unternehmen Barbarossa nicht als Präventivkrieg eingestuft werden kann, hat der Begriff Präventivkrieg seinen Sinn überhaupt verloren.

Stefan Scheil: Präventivkrieg Barbarossa. Fragen, Fakten, Antworten. Kaplaken Band 26. Edition Antaios, Schnellroda 2011, gebunden, 92 Seiten, 8,50 Euro

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