© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/11 01. Juli 2011

CD: Gustav Mahler
Neben dem Orchester
Jens Knorr

Was lange liegt, das reift nicht immer mit der Zeit. Der Dirigent Michael Gielen, Jahrgang 1927, hat seine Einspielung aller Symphonien Gustav Mahlers mit einer Aufnahme der Symphonie für eine Tenor- und eine Altstimme „Das Lied von der Erde“ ergänzt, die genaugenommen zwei Aufnahmen sind. Die Sätze für Tenor (Nr. 1, 3 und 5) wurden mit Siegfried Jerusalem im November 1992 im Hans-Rosbaud-Studio Baden-Baden eingespielt, die Sätze für Alt- oder Baritonstimme (Nr. 2, 4 und 6) mit Cornelia Kallisch im November 2002 im Konzerthaus Freiburg.

Orchester und Dirigent sind dieselben, das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, dessen Chefdirigent Gielen von 1986 bis 1999 war und dessen ständiger Gastdirigent er heute ist – sofern ein Orchester nach zehn Jahren dasselbe Orchester und ein Dirigent derselbe Dirigent noch sind.

Sowohl in dienstlicher als auch privater Hinsicht war das Jahr 1907 Mahlers Annus horribilis gewesen. Er trat als Intendant der Wiener Hofoper zurück, die älteste Tochter Maria Anna starb an Diphterie, bei ihm wurde ein Herzklappenfehler diagnostiziert, der allerdings nicht Todesursache werden sollte. In dem Jahr kam Mahler ein Insel-Band mit Nachdichtungen chinesischer Lyrik in die Hände, „Die chinesische Flöte“ von Hans Bethge, jugendstiliges Kunstgewerbe mit allerdings viel Leerraum für Musik, den Mahler wohl zu nutzen wußte. Nach dem Größten, das er je gemacht habe, der 8. Symphonie, nun das Persönlichste, die heimliche Neunte, das erste seiner Weltabschiedswerke, das die Endlichkeit des Lebens und die Unendlichkeit der Welt besingt.

Michael Gielen bildet die expressiven Gesten der Partitur ab, ohne sich ihnen zu unterwerfen. Er läßt schroff, hart, schrill, dabei immer durchhörbar spielen, aller konfektionierten Einebnung abhold, jener „Mahlaria“, von welcher die Partituren unter den Händen unberufener Dirigenten und Orchester befallen sind. Wenn er doch bloß der gesanglichen Realisierung dieselbe Zucht hätte angedeihen lassen! Seine Sänger liefern bestenfalls pauschalisierende Entwürfe der einzelnen Lieder, die unverwandt nebeneinander stehen und neben dem Orchester auch.

Der Wagner-Sänger Siegfried Jerusalem hat Stamina für den ersten und fünften, weniger die lyrische Sensibilität für den dritten Satz. Der Umgang mit der für ihn sehr hoch liegenden Partie und das Umgehen ihrer Tücken sind achtenswert. Und welchem anderen Tenor hätte der Part Anfang der Neunziger auch anvertraut werden können? Cornelia Kallischs Mezzosopran-Stimme ist nicht eben ausladend, in der Höhe klingt sie flackrig, in der Tiefe resonanzarm und in allen Registern mit ältlich gouvernantenhafter Note. Nur in lauer Mittellage scheint sie richtig fokussiert. Ihre Qualitäten werden vor allem im Finalsatz offenbar, wo sie von ihrer Trägerin instrumental geführt und Hinübergehen als Aufgehen im Orchesterklang realisiert wird.

Bruno Walter, Dirigent der Münchner Uraufführung 1911, hat uns Mahlers Ausspruch überliefert: „Ist das überhaupt auszuhalten? Werden sich die Menschen nicht danach umbringen?“ Abgesehen von einigen wahrhaftigen Stellen gibt diese Aufnahme keinen Grund zur Sorge.

Gustav Mahler: Das Lied von der Erde Hänssler Classic CD 93.269 www.haenssler-classic.de

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