© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/11 01. Juli 2011

Literarische Gespenster
Frankreich: Célines antisemitische Pamphlete spuken fort
Harald Harzheim

Eigentlich wollte Frankreichs Kulturminister Frédéric Mitterrand den 50. Todestag Louis-F. Célines mit der üblichen Kranzniederlegung abhaken. Jetzt ist der literarische Krawallero der staatlichen Einbalsamierung doch noch entkommen: Serge Klarsfeld, Vorsitzender der Vereinigung „Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten aus Frankreich“, hatte Ende Januar in der Broschüre „Nationale Gedenkfeiern 2011“ den antisemitischen Schriftsteller entdeckt. Er beschwerte sich bei Mitterrand. Der unterzog Célines Pamphlet „Bagatelles pour un massacre“ einer Lektüre und strich den Autor von der Ehrenliste.

Die Reaktion jüdischer Intellektueller in Frankreich war gespalten: Während Regisseur Claude Lanzmann der Streichung zustimmte, gab es heftige Kritik durch Alain Finkielkraut und Bernard-Henri Lévy. Letzterer wertete diese Gedenkfeier als Chance, um zu zeigen, daß „große Schriftsteller“ zugleich „absolute Schweinehunde“ sein könnten.

Diesem Streit ging ein jahrzehntelanger Eiertanz voraus. Einerseits ist Célines literarischer Rang weltweit unbestritten. Selbst in Israel wird er längst gelesen. Schon zu Lebzeiten widmete ihm Frankreich eine Pléiade-Ausgabe; sein Debütroman, „Voyage au bout de la nuit“ (Reise ans Ende der Nacht, 1932), gilt nicht allein als meistgekauftes, sondern auch als das meistgeklaute Buch Frankreichs. Trotz akademischer Denkmalpflege erzielt es ungebrochene, höchst vielfältige Wirkung: Célines späte Vision vom übermächtigen China ist inzwischen fester Bestandteil liberaler Hysteriepropaganda.

Andererseits pflasterte der maoistische Avantgarde-Regisseur Jean-Luc Godard seinen Film „Pierrot-le-fou“ (1964) mit Céline-Zitaten, versuchte 1968 sogar eine Verfilmung der „Voyage“ mit Jean-Paul Belmondo. Und Präsident Sarkozy bewundert Céline als Vorbild des modernen Karrierismus: Als Armenarzt habe er jeden Abend, nach erschöpfendem Tageswerk, noch an Romanen geschrieben, über Jahre hin: Was für ein Leistungswille! Der Mann „hat was aus sich gemacht“ (Sarkozy).

Kurzum, Céline bietet jedem etwas: dem Literaturliebhaber, dem bücherklauenden Prekarier, dem ängstlich auf China starrenden Ökonomen, dem linken Avantgardefilmer und dem Apologeten moderner Selbstausbeutung. Wären da nicht die drei antisemitischen Pamphlete „Bagatelles pour un massacre“ (Bagatellen für ein Massaker, 1937), „Ecole des cadavres“ (Schule der Kadaver, 1938) und „Les beaux draps“(Die schönen Leichentücher, 1941). Auf deutsch erschienen die „Bagatelles“ 1938 unter dem Titel „Die Judenverschwörung in Frankreich“ als Bearbeitung, den Inhalt weiter zuspitzend, Passagen streichend und den „entarteten“ Telegrammstil in „korrekte“ Syntax pressend.

Nach dem Krieg ließ Céline jeglichen Nachdruck der Pamphlete verbieten. Das kam dem Wunsch des Publikums nach einem „bereinigten“ Stilkünstler entgegen: Man trennte den guten „Voyage“-Autor vom bösen Verfasser der „Bagatelles“. Freilich eine Verteidigung mit dem Rücken zur Wand: Stilistisch wie motivisch erlauben die Pamphlete keine Abspaltung vom Romanwerk. Inzwischen bieten zahlreiche Internetseiten die verbotenen Schriften zum Download an, die literarischen Gespenster kehren zurück.

Man muß erwähnen, daß die Haßschriften des späteren Kollaborateurs Céline schon damals keinen ungeteilten Beifall fanden. Selbst linientreue NS-Anhänger glaubten, deren Wahnkonstrukte seien eher geeignet, ihr antisemitisches Anliegen zu ruinieren. Und André Gide meinte nach Erscheinen der „Bagatelles“, das könne nur ironisch, als Parodie auf Judenhaß gemeint sein. Dennoch stellt sich die Frage: Wie kam es bei Céline zu diesen Ausbrüchen?

Auch im Frühwerk Célines gab es antisemitische Sticheleien, und doch: Von Yudenzweck, dem korrupten, aber keineswegs bedrohlichen Leiter der „Kompromißabteilung“ des Völkerbundes (in dem Drama „L’eglise“, Die Kirche, 1927), führt kein Weg zu den Verschwörungsdelirien der Pamphlete. Tatsächlich war das Phänomen der Ausbeutung beim frühen Céline weder an Religion noch Rassenidee gebunden: Die brutalen Arbeitsprozesse in den amerikanischen Ford-Autowerken, in „Voyage“ detailliert beschrieben, sind dafür ein Beispiel.

Nur, eine politische Alternative schien dem Autor nicht vorstellbar.Die Linke, eine „Made im Kadaver des Kapitalismus“, liquidierte sich im stalinistischen Terrorregime: „Scheiße! Wenn das die Zukunft ist, sollten wir uns lieber an unserer eigenen dreckigen Lage erfreuen“, rief Céline nach seinem Rußlandbesuch im Jahre 1936, dem er das Pamphlet „Mea culpa“ (Meine Schuld, 1936) widmete. Jetzt projizierte er seinen Furor auf weniger Mächtige, auf eine Minderheit, bei der sich Haß gratis versprühen läßt.

Nein, kein Gedenkkranz für Céline! Wen man auf den Sockel hebt, den glaubt man überwunden. Aber Céline ist noch lange nicht tot. In ihm haben berechtigter Zorn neben feigem Haß, ideologische Versuchung neben Nonkonformismus, Vernichtungslust neben Menschenfreundlichkeit, Aufschrei des Verdrängten neben pathologischem Wahngebilde sich in einer Sprache artikuliert, die Literatur, Film und Comics prägte. Céline kann nicht als „Klassiker“ beerdigt werden.

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