© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/11 01. Juli 2011

Das Ende des deutschen Gymnasiums
Ausgeschult
von Karlheinz Weißmann

In diesen Tagen endet für einige hunderttausend Gymnasiasten in Deutschland die Schulzeit. Die Prüfungen sind abgelegt, die Reden gehalten, die Entlassungsfeiern haben stattgefunden, die Zeugnisse wurden ausgehändigt. Man wird den Abiturienten freundliche Worte auf den Weg gegeben haben, irgendwann dürfte es auch um den „neuen Lebensabschnitt“ – also Ausbildung oder Studium – gegangen sein.

Zwar liegen noch keine Statistiken vor, aber sicher ist, daß niemals zuvor ein so hoher Prozentsatz von Schülern das Gymnasium erfolgreich absolviert und dabei so gute Noten bekommen hat. Ein Mittel von 2,3 bei den Prüfungsergebnissen gilt selbst in Baden-Württemberg als Normalfall. Die Abiturienten, ihre Eltern, die Schulleitungen und die Politik verbuchen das als Erfolg, so wie man auch die große Zahl derer mit Genugtuung zur Kenntnis nimmt, die ein Studium aufnehmen will.

Kurz vor Schluß des Schuljahrs 2010/2011 wurde allerdings gemeldet, daß ein Viertel der deutschen Studenten die Hochschulen ohne Abschluß verläßt. Trotz intensiver Werbung für die Mint-Fächer – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und technischer Bereich – liegt die Quote hier sogar bei vierzig Prozent, in den Kulturwissenschaften und Sprachen zwischen zwanzig und achtundzwanzig Prozent; lediglich in Medizin erreichen fast alle Studenten das Ziel.

Man muß diese Daten nicht nur im Zusammenhang mit der Einführung von Bachelor und Master bewerten, wobei der Bachelor gerade dem Ziel diente, die Menge der Studienabbrecher zu verringern; man muß sie auch in den Kontext einer systematischen Absenkung des Anforderungsniveaus in den Studiengängen stellen. Dieser von der Öffentlichkeit kaum registrierte Prozeß hat mit „Bologna“ – also dem Versuch einer europäischen Anpassung – der Hochschulausbildung zu tun, in erster Linie aber mit den Defiziten des Gymnasiums als jener Schulform, die der Vorbereitung auf das Studium dienen soll und diese Vorbereitung immer seltener leisten kann.

Die insgesamt fatale Entwicklung des Gymnasiums hat drei Ursachen: erstens die Zerstörung des gegliederten Schulwesens, zweitens die Aufgabe des Bildungsbegriffs und drittens die Beseitigung des Leistungsprinzips. Was den ersten Faktor betrifft, muß man feststellen, daß es heute in Deutschland keine politische oder gesellschaftliche Kraft mehr gibt, die das dreigliedrige Schulwesen verteidigt. Die Union, die bis vor kurzem versuchte, prinzipiell an Hauptschule – Realschule – Gymnasium festzuhalten, hat kapituliert und nicht nur auf Druck eines Koalitionspartners (die Grünen im Saarland, die Sozialdemokraten in Thüringen), sondern auch ohne Not (Niedersachsen) begonnen, die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule zu betreiben. Für den Herbst liegt ein Leitantrag zum Parteitag vor, mit dem sich die CDU endgültig vom dreigliedrigen Schulsystem verabschieden wird.

Diese Entscheidung ist entgegen verbreiteter Auffassung nicht nur eine organisatorische Angelegenheit. Sie erhält ihre Dramatik dadurch, daß in den vergangenen Jahren alles getan wurde, um die Schülerzahlen an den Gymnasien zu erhöhen. Zwar bleibt die Zulosung von Plätzen eine Berliner Absurdität, aber der politische Druck zur „Öffnung“ der Gymnasien ist flächendeckend und wo der „Elternwille“ den Ausschlag gibt, sehen sich die Gymnasien mit einer Menge von Schülern konfrontiert, die an einer höheren Schule keinesfalls unterrichtet werden kann.

Statt dem Problem abzuhelfen, reagiert die politische Führung mit Kaschierung, Ausleseverboten und der Übernahme von Jargon und Verfahren der Integrierten Gesamtschulen (Stichwort: „Binnendifferenzierung“). Diese Tendenz zur Umwandlung des Gymnasiums in eine „IGS light“ bei gleichzeitiger Austrocknung anderer Schulformen wird noch verstärkt durch die Perspektiven des demographischen „Wandels“, der jede Schule in ihrer Existenz bedroht, die nicht über eine gewisse Schülerzahl verfügt.

Am Fortbestand sind Schulträger wie Schulleitung unbedingt interessiert, was eine gewisse Vorstellung von der Bedeutung sachfremder Erwägungen für die konkrete Gestaltung eines schulischen Anforderungsprofils vermitteln dürfte. Die seit einigen Jahren in Mode gekommene „Eigenständigkeit“ oder „Selbständigkeit“ der Schulen fällt jedenfalls nicht ins Gewicht. Bei dieser Konstruktion war abzusehen, daß es nur um die Abwälzung von Verwaltungsaufgaben auf die Basis ging, nicht etwa um substantielle Autonomie.

Vor allem aber wollte man hier wie auf anderen Feldern der deutschen Bildungspolitik das amerikanische Modell nachspielen. Der Sachverhalt wird auch deutlich erkennbar an dem Highschool- beziehungsweise „Oberschul“-Konzept, das die Union durch die Verschmelzung von Haupt- und Realschule favorisiert, an der Abwertung schulischer im Sinne allgemeiner Bildung und der Verankerung nationaler „Bildungsstandards“, die mit Bildung im Sinne der deutschen Tradition wenig, mit einer Input-Output-Orientierung angelsächsischen Musters sehr viel zu tun haben. Es handelt sich dabei weiter um den Versuch, die seit den sechziger Jahren immer wieder gescheiterte Restitution eines Bildungskanons zu erledigen, indem man der Einfachheit halber auf Bildung – sprich: Inhalte – vollständig verzichtet und sich statt dessen auf „Kompetenzen“ – sprich: Verfahren – beschränkt.

Zu erklären ist dieses Vorgehen nicht allein durch pädagogische Ratlosigkeit, sondern auch durch die Verlockungen, denen man sich seit einiger Zeit von seiten der Medienindustrie ausgesetzt sieht, die die Schule wegen der Bedeutung für die Bereitstellung von „Humankapital“ (Rupert Murdoch) entdeckt hat, großzügig ihren Rat zwecks Optimierung anbietet und im übrigen darauf wartet, Bildung zu einer Ware zu machen, die auf einem der Zukunftsmärkte mit riesigen Wachstumschancen angeboten werden soll. Vor diesem Hintergrund erklärt sich etwa die Einflußnahme der in Deutschland maßgeblichen Bertelsmann-Stiftung und ihrer Konzepte totaler Beschulung, deren Effizienz mittels „Evaluation“ geprüft werden soll.

Gegen die unheilige Allianz von linken und ökonomistischen „Reformern“ gibt es offenbar kein Mittel. Abweichende Auffassungen finden kaum Rückhalt und kommen nicht zur Geltung, die phobische Reaktion auf Schulformdifferenzierung ist genauso allgemein wie die Bereitschaft zur „Nivellierung ins Nichts“ (Hans Peter Klein). Die Ursache liegt aber nicht nur in der erwähnten Bildungsfeindschaft, sondern auch in der Absage an das Leistungsprinzip.

Diese Feststellung mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, angesichts von allfälliger Schulinspektion nach dem Muster von Betriebsprüfungen, Rankinglisten, Begabtenförderung, immer neuen Wettbewerben und Kika-Spielshows unter dem Titel „Die beste Klasse Deutschlands“. Die Realität hinter dem schönen Schein sieht aber anders aus. Die „Nachjustierung“ der bayerischen Abiturnoten qua ministerieller Weisung erklärt sich jedenfalls nicht nur aus den besonderen Anforderungen von G8 und Doppeljahrgang, sondern ist ein Indiz für das Totalversagen der neuen didaktischen Konzepte.

Die empirische Überprüfung von Kenntnissen und Fertigkeiten der Schüler führt längst – bei erwartbarem Süd-Nord-Gefälle – zu erschütternden Ergebnissen. Relativ bekannt geworden ist der Fall, in dem Neuntkläßler eines nordrhein-westfälischen Gymnasiums mehrheitlich die Abituraufgaben des Leistungsfachs Biologie bewältigen konnten, weil die Verantwortlichen aus lauter Sorge vor Schülerversagen die entscheidenden Informationen in die Aufgabenstellung gesteckt hatten, so daß „Lesekompetenz“ genügte.

Die kürzlich publizierte Untersuchung von Prüfungsarbeiten im Leistungsfach Geschichte ergab nicht nur einen irritierenden Mangel an brauchbarem Wissen bei den Schülern, sondern auch das völlige Fehlen von Urteilsvermögen; in den Klausuren hatte man es gewöhnlich nur zu tun mit der „unreflektierten Wiedergabe angelernter und sozial erwünschter Urteilspartikel“. Um diesen rapiden Verfall eines Grundsatzes zu verstehen, der einmal als Leitidee des deutschen Schulsystems und vor allem des gymnasialen Konzepts galt, sei vorausgeschickt, daß die Vorstellung, Leistungsorientierung sei eine genuin bürgerliche Angelegenheit, falsch ist.

Ohne Zweifel haben alle gesellschaftlichen Gruppen – der Adel genauso wie die Arbeiterschaft – in der Phase ihres Aufstiegs der Leistungsfähigkeit ihrer Mitglieder wie des Kollektivs großen Wert beigemessen: aus Gründen der Selbsterhaltung wie der Durchsetzungskraft. Sobald die entscheidenden Positionen erreicht sind, läßt diese Tendenz automatisch nach, treten Klientelwirtschaft und andere – im weitesten Sinn ideologische – Erwägungen an die Stelle.

Die erschlichenen Doktortitel und die Unbildung führender Politiker sind deshalb nur ein Indiz für das, was unter der Oberfläche lauert, und was die ideologischen Erwägungen betrifft, hat man es mit Konsequenzen der seit drei Jahrzehnten vorherrschenden Mischung aus vorgeschobener Menschenfreundlichkeit, Sozialkitsch, Quotenregeln, „Inklusions“-Verfahren und Varianten von „Affirmative Action“ zu tun, die doch nicht darüber hinwegtäuschen können, daß man ein System etabliert, das den schulischen Erfolg zum Teil der Willkür jener ausliefert, die die Definitionsmacht in bezug auf alles haben, was nicht der Leistungsbeurteilung unterliegt.

Wenn dieser Text den Titel „Das Ende des deutschen Gymnasiums“ trägt, dann nicht zum Zweck der Effekthascherei. Tatsächlich steht die erfolgreichste deutsche Schulform vor dem Aus. Widerstand gibt es nicht. Vom erwartbaren Opportunismus der Union war bereits die Rede, die eher konservativen Lehrerverbände begnügen sich seit langem mit Schadensbegrenzung und weichen Schritt für Schritt zurück.

Wer meint, daß dieses Ende in der Vergangenheit oft genug angekündigt wurde – im Prinzip seit der Erweiterung des altsprachlichen Gymnasiums um die neuen Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften am Ende des 19. Jahrhunderts – oder wer darauf verweist, daß das Gymnasium die Anschläge von links – schon zu Beginn der Weimarer Republik, dann in der DDR und im Gefolge von ’68 – und die des Nationalsozialismus genauso überstanden habe wie die Versuche der Alliierten, ihre „Demokratisierung“ mit der Beseitigung des gegliederten Schulsystems zu krönen, dem muß entgegengehalten werden, daß die heutige Lage eine qualitativ andere ist.

Der Bestand des Gymnasiums hatte seinen Rückhalt immer in jenem deutschen Sonderbewußtsein, das dem Prinzip der Gerechtigkeit – und das heißt hier des Aufstiegs durch Anstrengung – einen höheren Wert beimaß als dem Prinzip der Gleichheit und der Schonung persönlicher Empfindlichkeiten. Dieses deutsche Sonderbewußtsein ist bis auf Reste verschwunden, ein Opfer von Verwestlichung oder Amerikanisierung, deren Erfolg landauf, landab begrüßt wurde. Endlich sind wir geworden wie die anderen auch, und bekommen das, was sie längst haben: massenhaften Analphabetismus, Schulpolitik als Variante von Sozialpolitik und Bildung nur noch gegen Bares.

 

Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Gymnasiallehrer, Autor und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Staatspolitik. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Verschleierungsverbot („Verbieten? Der Schleier als Menetekel“, JF 2/11).

Foto: Schulfrei für die Leistungsstarken: Das Gymnasium als Ort der Bestenauslese hat ausgedient

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