© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/11 01. Juli 2011

Der Mann, der Stalin durchschaute
Der US-Diplomat George F. Kennan und der Kurswechsel der europäischen Nachkriegspolitik
KLaus Hornung

Am 5. Juni 1947 gab der US-Außenminister, General George Marshall, in einer Rede an der Harvard-Universität den Beginn eines umfassenden Wiederaufbauprogramms für das kriegszerstörte Europa bekannt. Der Marshallplan markierte eine Wende in der amerikanischen Politik, sowohl gegenüber der Sowjetunion, aber auch im Blick auf Deutschland. Zwei Jahre über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus hatte man in Washington versucht, die Kooperation mit der anderen Hauptsiegermacht auch im Frieden fortzusetzen. Stalin war davon unbeeindruckt geblieben und hatte aus seinen offensiven Zielen in Europa und in Ostasien keinen Hehl gemacht. Der amerikanische Präsident Harry S. Truman war nun nicht mehr länger bereit, „die Sowjets in Watte zupacken“, wie es sein Vorgänger Franklin D. Roosevelt getan hatte. Schon die Berufung des Generals George Marshall zum Außenminister im Januar 1947 war ein deutliches Signal der amerikanischen Kursänderung gewesen. Der Marshallplan wurde zum Kernstück einer neuen Politik der „Eindämmung“ der expansiven Sowjetunion.

Einer der wichtigsten Vordenker dieses Kurswechsels war der junge amerikanische Diplomat und Sowjetexperte George F. Kennan (1904–2005). Er hatte schon seit den dreißiger Jahren die linksliberale und sowjetfreundliche Politik Roosevelts kritisiert, die auf beträchtlicher Unkenntnis der sowjetischen Politik und ihrer ideologischen Grundlagen beruhte. Kennan plädierte für eine neue realistische Strategie der Vereinigten Staaten, durch den ökonomischen Wiederaufbau des kriegszerstörten Europa unter Einschluß Deutschlands Stalins Zugriff auf ganz Europa zu verhindern.

Kennan hatte sich auf seine Tätigkeit als Diplomat und Sowjetexperte sorgfältig vorbereitet. Er hatte im Rahmen der großzügigen Ausbildung der amerikanischen Diplomaten 1929/1931 in Deutschland an der Berliner Universität russische Geschichte und sowjetkommunistische Gegenwart bei den renommierten Gelehrten Karl Stählin und Otto Hoetzsch studiert. Als Roosevelt im Dezember 1933 die diplomatischen Beziehungen mit Moskau aufnahm, war Kennan von Anfang an dabei. Er erlebte dort die Jahre der Stalinschen Säuberungen und Schauprozesse aus der Nähe. Er geriet bald in Konflikt mit dem amerikanischen Botschafter Joseph E. Davies, der als Roosevelts persönlicher Vertrauensmann Stalins Version der Schauprozesse unkritisch nach Washington weitergab.

Kennans diplomatisches Leben blieb spannend. 1937 aus Moskau abberufen, war er 1938/39 an der amerikanischen Gesandtschaft in Prag tätig, um dann als amerikanischer Geschäftsträger an die Botschaft in Berlin versetzt zu werden, wo er exakt am Tag des Kriegsbeginns am 1. September 1939 eintraf. Hier vertrat er die Vereinigten Staaten bis zum Beginn des Krieges zwischen den USA und Deutschland am 11. Dezember 1941 und verbrachte dann Monate der Internierung des Botschaftspersonals bis zum April 1942. Seine umfangreichen Aufzeichnungen über die Zeit dieses „War Time Service in Germany“ mit vielfältigen Begegnungen, sowohl mit vielen Deutschen wie mit Repräsentanten des beginnenden deutschen Widerstands gegen Hitler, vor allem mit James Graf Moltke, sind als zeitgeschichtliche Quelle noch nicht ausgeschöpft. Er teilte daher auch nicht die Propaganda der amerikanischen Medien, die Mehrheit der Deutschen stünde hinter Hitler.

Von 1944 bis 1946 erneut in Moskau, begann nun die Phase seines wachsenden politischen Einflusses. Als Geschäftsträger an der amerikanischen Botschaft entwarf er in einem dienstlichen „Long Telegram“ vom 22. Februar 1946 an das State Department ein realistisches Bild der Sowjetunion, der kommunistischen Partei und ihrer ideologischen Grundlagen sowie der darauf beruhenden expansiven Ziele Stalins, ein Bild, das nicht zuletzt bei Präsident Truman Beachtung fand und einen wesentlichen Anstoß gab zum Kurswechsel der amerikanischen Politik.

In Reaktion auf dieses historische Telegramm vom 22. Februar 1946 wurde Kennan noch im selben Frühjahr zum stellvertretenden Leiter des neu gegründeten National War College in Washington berufen. Diese Einrichtung sollte der vertieften Ausbildung der politischen und militärischen höheren Führungsränge dienen und eine neue integrierte politisch-militärische Strategie entwerfen. Kennan konnte nun darangehen, jenes neue Gesamtkonzept der US-Außenpolitik zu entwickeln, das die bisherige vor allem ideologisch gefärbte Haltung der Roosevelt-Jahre durch eine realistische, am eigenen nationalen Interesse orientierte Position ablöste. Nach Marshalls Amtsantritt als Außenminister im Januar 1947 wurde Kennan im Mai zum Leiter des Planungsstabes im State Department berufen.

Hier wurde er nun immer mehr zum wichtigsten Architekten der neuen amerikanischen Containment-Politik und Ratgeber bei der Realisierung des Hilfsprogramms für Europa. Kennan, der dem politischen Messianismus der Wilson-Roosevelt-Ära stets kritisch gegenüberstand, drängte darauf, die bisherige wenig einfallsreiche Politik der Bestrafung und Umerziehung der besiegten Deutschen durch eine konstruktive Grundhaltung zu ersetzen, die den Besiegten überhaupt wieder Zukunftshoffnung vermitteln sollte. Schon immer hatte Kennan auch das bei den Konferenzen von Jalta und Potsdam entworfene Konzept einer gemeinsamen Regierung von Vierzonendeutschland durch einen alliierten militärischen Kontrollrat als Illusion, als einen „Pfeifentraum“ erkannt. Als die Sowjets im März 1948 aus dem Kontrollrat austraten, zeigte das, wie sehr die Realität schon über die Konstruktionen der Roosevelt-Ära hinwegschritt.

Ohne Frage bedeutete die amerikanische Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion und der Beginn des Wiederaufbaus Europas eine Zäsur in der europäischen und deutschen Nachkriegsgeschichte. Man erkannte jetzt in Washington, daß die bisherige Neigung, die Dinge in Europa schleifen zu lassen, dem wachsenden kommunistischen Einfluß den Weg bahnen mußte. Eine geschickt arrangierte indirekte sowjetische Expansionsstrategie setzte vor allem auf ihre Hilfstruppen in Europa, auf die starken kommunistischen Parteien und Gewerkschaften in Frankreich und Italien. Deshalb war der ökonomische Wiederaufbau in Europa die richtige Abwehrstrategie, um der Verelendung, der Lethargie und den kommunistischen Schalmeien entgegenzuwirken, wenngleich die kommunistische Agitation alles tat, um den Marshallplan als ein Unternehmen amerikanischer Kapitalisten und ihres Profitstrebens zu diskreditieren. Die damalige verzweifelte ökonomische, psychologische und soziale Situation in weiten Teilen Europas wertete Außenminister Marshall als die Situation eines Ertrinkenden, den nur rasche Hilfe retten konnte. Bei weiterer westlicher Untätigkeit wäre der gesamte Kontinent der Sowjetunion in absehbarer Zeit als reife Frucht in die Hände gefallen.

Mit Hans Joachim Morgenthau (nicht zu verwechseln mit Henry Morgenthau, Roosevelts Finanzminister und Erfinder des berüchtigten Morgenthauplans) und Henry Kissinger gehörte Kennan zu der sogenannten Realistischen Schule der Politik in den USA, die einer vorrangig ideologisch geprägten Außenpolitik mit ihren populären Massenstimmungen und Emotionen und ihrer Neigung, die Welt fundamental in Gute und Böse einzuteilen, widerspricht. An ihre Stelle setzen die Realisten eine kluge Abwägung der nationalen Interessen, und sie stehen einer Politik kritisch gegenüber, die dazu neigt, Konflikte bis zur totalen Vernichtung des Feindes durchzufechten, wie es die Amerikaner im Zweiten Weltkrieg taten.

Das Grundgerüst politischen Denkens und Handelns der Realistischen Schule orientiert sich an geschichtlicher Erfahrung und fundamentaler historischer Bildung. Sie widerspricht sowohl einem leichtsinnigen politisch-messianischen Fortschrittsoptimismus wie der vernunftlosen Machtpolitik pseudokonservativer Eliten. George F. Kennan, dem Architekten der amerikanischen Eindämmungsstrategie gegenüber der sowjetkommunistischen Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg, gebührt eine bleibende Erinnerung als Analytiker und Praktiker der Politik im 20. Jahrhundert.

Fotos: Marshallplan-Lieferungen für Griechenland 1947: Ohne Hilfe wäre ganz Europa der Sowjetunion als reife Frucht in die Hände gefallen; George F. Kennan: Realpolitik statt politischer Messianismus

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen