© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/11 15. Juli 2011

Überforderte Zauberlehrlinge
Baden-Württemberg: Der Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21 wird für die grün-rote Landesregierung immer mehr zur Belastungsprobe
Kurt Zach

Die Geister, die sie im Wahlkampf riefen, werden sie nun nicht mehr los. Das Bahnprojekt „Stuttgart 21“, dem sie ihren spektakulären Wahlerfolg verdanken, hängt den baden-württembergischen Grünen und ihrem ersten Ministerpräsidenten wie ein Mühlstein um den Hals. Tätliche Angriffe von Demonstranten auf Polizeibeamte, eine Polizeirazzia zur Sicherung von Beweismitteln beim Chef der anarchistischen „Parkschützer“, ein dilettantisch agierender grüner Verkehrsminister und anhaltende Demonstrationen gegen das Bahnprojekt, bei denen sie zunehmend selbst zur Zielscheibe werden, lassen die Partei wie überforderte Zauberlehrlinge dastehen.

Mit seiner bräsig-landesväterlichen Art kann Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Brüche und Widersprüche seiner grün-roten Koalition noch einigermaßen übertünchen. Doch sein ursprüngliches Kalkül, eher ein Hütchenspiel mit mehreren Unbekannten, ist nicht aufgegangen. Kretschmann hatte zu lange darauf gesetzt, die Bahn durch das Schreckgespenst explodierender Baukosten zur einvernehmlichen Auflösung der rechtsgültigen Bauverträge bewegen zu können, die auch die neue Landesregierung binden.

Mit zweideutigen Äußerungen zum Rechtsstaatsverständnis („Ich bin kein totaler Rechtspositivist“) versucht auch Kretschmann die Klientel der lautstarken „Stuttgart 21“-Gegner bei Laune zu halten, die sich nicht damit begnügen will, ihren grünen Fürsprechern zu Ministerämtern, Spitzenjobs und Dienstwagen verholfen zu haben. Verkehrsminister Winfried Hermann, dem dieser Part vor allem zugedacht war, erweist sich als Hypothek: Mit unqualifizierten Angriffen auf die Bahnführung hat er sich in den Verdacht der Falschaussage gebracht und Porzellan zerschlagen, das ihm noch fehlen könnte, wenn das Projekt doch gebaut wird. Gut möglich, daß er schon als politischer Sündenbock vorgesehen ist, wenn das Wahlversprechen, „Stuttgart 21“ zu stoppen, endgültig platzt.

Radikale Protestgruppen wie das kleine Häuflein der sogenannten „Parkschützer“, deren Anführer, der ehemalige „Greenpeace“-Pressesprecher Matthias von Herrmann, staatsanwaltliche Ermittlungen gegen Gewalttäter in den eigenen Reihen als „Affentheater“ abtut und mit wiederholten Bekenntnissen zu „kleinen Gesetzesverstößen“ und „Gewalt gegen Sachen“ aus seiner Verachtung rechtsstaatlicher Normen keinen Hehl macht, werden für die Grünen als Regierungspartei ebenfalls zur Belastung. Freilich haben auch die Grünen selbst ihr eigenwilliges Demokratieverständnis demonstriert, als sie zuerst den fragwürdigen „Schlichtungs“-Prozeß ins Spiel brachten und dann das ihnen nicht genehme Ergebnis aus Wahlkampftaktik nicht akzeptieren wollten.

Auch das taktische Manöver des grünen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer, der Bahn im Zuge der „Schlichtung“ einen neutralen Belastungstest des Bahnprojekts aufzuerlegen, um selbiges weiter zerreden zu können, fällt der nunmehrigen Regierungspartei jetzt auf die Füße. Trotz abermaliger Verschiebung der Präsentation der Ergebnisse des „Streßtests“ durch das Schweizer Gutachterbüro SMA will die Bahn die Großaufträge für Tiefbahnhof und Tunnelbauten bis Ende Juli vergeben, bevor die Bindungsfristen der eingeholten Angebote auslaufen; und je länger das Gezerre anhält, desto größer der Überdruß der Bürger, bei denen die Zustimmung zu dem Bahnprojekt stetig steigt. Sollte die im Koalitionsvertrag vereinbarte, rechtlich umstrittene Volksabstimmung über das Bahnprojekt überhaupt stattfinden, könnte das Ergebnis durchaus zugunsten der SPD, die hinter dem Projekt steht, und gegen die Ministerpräsidentenpartei ausfallen.

Übersteht die grün-rote Koalition diesen Belastungstest, kann sie forciert vorantreiben, woran sie bereits jetzt, vom „S 21“-Getöse überlagert, eifrig arbeitet: den linksideologischen Umbau des Industrielandes Baden-Württemberg durch Öko-Energie- und Subventionsprogramme und die Einführung der Einheitsschule. Mit ernsthaftem Widerstand durch CDU und FDP muß sie kaum rechnen. Es ist absehbar, daß die CDU in der Schulpolitik auf die neue Bundeslinie einschwenken und die Verteidigung des dreigliedrigen Schulsystems aufgeben wird, um sich sowohl die schwarz-grüne als auch die schwarz-rote Türe offenzuhalten.

Solange sie mit den Grünen regieren kann, wird die SPD, die sich alle Kernressorts – Innen, Justiz, Kultur und Bildung – sichern konnte, dem schwarzen Werben zwar nicht nachgeben. Doch gleichgültig in welcher Konstellation nach den nächsten Wahlen weiterregiert wird, Baden-Württemberg rutscht kräftig nach links. Ideologisch bleiben die Grünen, trotz des zur Belastung gewordenen Wahlkampfthemas „Stuttgart 21“, eindeutig die Gewinner.

Foto: „Parkschützer“ Matthias von Herrmann nach der Razzia: Ermittlungen gegen Gewalttäter

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