© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/11 15. Juli 2011

Vorbild Bismarck
Sozialpolitik: Vor hundert Jahren wurde die Reichsversicherungsordnung verkündet / Ursprünglich Altersrente ab 70
Jens Jessen

Die bedeutendsten deutschen Gesetze des frühen 20. Jahrhunderts waren das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) und die Reichsversicherungsordnung (RVO). Mit der RVO wurden vor hundert Jahren die Bismarckschen Sozialversicherungsgesetze der Jahre 1883 bis 1889 über die Kranken-, Renten- und Unfallversicherung zusammengefaßt und reformiert. Das Gesetzbuch wurde am 19. Juli 1911 im Reichs-Gesetzblatt verkündet und bis zum 1. Januar 1914 schrittweise in der Praxis umgesetzt.

Die Jahre 1871 bis 1895 waren im neuen Kaiserreich durch tiefe Umbrüche gekennzeichnet. Die Agrarrevolution und der Übergang zu industriellen Großunternehmen führten zu einer ungeheuren Landflucht. Traditionelle Familienstrukturen und die dörfliche Solidarität brachen auseinander.

Das bindungslose Industrieproletariat organisierte sich in der Sozialdemokratie, weil andere Kräfte kaum Interesse für deren prekäre Lage zeigten. Mit dem Börsenkrach von 1873 begann die große Depression, die erst 1895 überwunden war. Die Arbeitgeber reagierten mit Lohnsenkungen um teilweise die Hälfte und mit Massenentlassungen. Es herrschte Existenzangst. Wenn der Ernährer der Familie arbeitslos wurde, mußte er mit seiner Familie die Wohnung räumen. Arbeitslosengeld gab es nicht. Betroffene Familien verkamen häufig zum Lumpenproletariat, wenn zum Überleben Kredite mit einer Verzinsung von 20 bis 50 Prozent in Anspruch genommen werden mußten.

Dem praktizierenden Christen Otto von Bismarck ließ die Situation der Betroffenen keine Ruhe. Er forderte die Stabilisierung der staatlichen Sozialpolitik, die von den sogenannten Katheder-Sozialisten des „Vereins für Socialpolitik“ wissenschaftlich begleitet wurde. Die Sozialpolitik sollte die Fehlentwicklungen in der Gesellschaft korrigieren. Dazu bedurfte es nach Ansicht des Reichskanzlers mehrerer Schritte: einmal die Schaffung der Arbeiter-Krankenversicherung, zum anderen ein Unfallversicherungsgesetz und schließlich ein Gesetz für die Invaliditäts- und Altersversicherung.

Bismarck hielt einen Arbeiter mit Krankenversicherung und Rentenanspruch nicht mehr für tauglich, „Revoluzzer“ zu spielen. Im Gegenteil: Der Arbeiter würde diesen „staatssozialistischen“ Schritt als unumgänglich akzeptieren. „Der Staatssozialismus paukt sich durch“, vertraute er Parteigängern an, „jeder, der diesen Gedanken aufnimmt, wird ans Ruder kommen.“ Bismarck wollte staatlich finanzierte und gelenkte Krankenkassen. Damit konnte er sich im Reichstag nicht durchsetzen.

Historiker sind der Ansicht, daß der deutsche Sozialstaat in seiner Substanz weder sozialdemokratisch noch konservativ und erst recht nicht liberal geprägt ist. Er ist bei genauer Betrachtung katholisch. In allen Fällen haben katholische Politiker die Philosophie und Struktur deutscher Sozialstaatlichkeit geprägt. Wäre es nach Bismarck gegangen, dann hätten die Sozialreformen durch Zwangsversicherungen und staatliche Einnahmen etatisiert werden müssen.

Doch die katholischen Politiker des Zentrums, auf deren Votum Bismarck angewiesen war, setzten sich durch. Sie gründeten die Sozialreformen auf Selbstverwaltung sowie Beitragszahlung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. So wurde sowohl der Rechtsanspruch der arbeitenden Beitragszahler als auch die sozialethische Pflicht von Unternehmern verankert. 1883 machte die SPD im Reichstag mobil gegen das Krankenversicherungsgesetz. Die Konservativen, das katholische Zentrum und die Nationalliberalen stimmten für das Gesetz (216), die SPD und die liberale Fortschrittspartei dagegen (99).

Das von Bismarck geschaffene „katholische“ Sozialversicherungssystem überstand alle Kriege, Umwälzungen und Krisen des 20. Jahrhunderts. Seine Grundstrukturen sind bis heute im wesentlichen gleichgeblieben.

Das Gesetz zur Unfallversicherung von 1884 transformierte das Problem von Gefahr und Verschulden in Risiko. Hatte ein Arbeiter einen Unfall erlitten, gab es für ihn ursprünglich keinerlei Absicherung: Oft erhielt er die Kündigung. Armut war die Folge, da die verunfallten Arbeiter ihrem Arbeitgeber ein schuldhaftes Verhalten nachweisen mußten. Für die meisten war das schon aus finanziellen Gründen unmöglich.

Der Staat zog sich lange auf die Position zurück, daß der Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine privatrechtliche Angelegenheit sei. Doch aus unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft wurden Forderungen laut, die ungesicherte Existenz nicht länger hinzunehmen und sie in einer „Arbeiterversicherung“ abzusichern.

Bismarck war sich des Handlungsbedarfs wohl bewußt: Er favorisierte eine öffentlich-rechtliche Unfallversicherung, die den Betroffenen unabhängig von der Verschuldensfrage entschädigt. Die Kosten sollten allein die Arbeitgeber und der Staat tragen. Viele Unternehmer fürchteten steigende Kosten, andere wiesen jedoch darauf hin, daß eine wachsende Industrie auf zufriedene und gesunde Arbeiter angewiesen ist.

Mit der Schaffung einer Invaliditäts- und Altersversicherung 1889 als letztes der großen Sozialversicherungsprojekte spielte Deutschland im internationalen Vergleich eine Vorreiterrolle. Invalidität und nachlassende Arbeitskraft im Alter sollten künftig durch den Rechtsanspruch auf eine Rente ab 70 an Bedrohlichkeit für die Arbeiter verlieren. Wenn auch die Rente aufgrund ihrer geringen Höhe zunächst für den einzelnen nur einen Zuschuß zum Lebensunterhalt ausmachte, lag eine bedeutsame sozialpolitische Innovation in der Pflichtversicherung der schwer kalkulierbaren Risiken Invalidität und Alter.

Den materiellen Hintergrund bildete das weit verbreitete Problem der Altersarmut, das im Gefolge der Industrialisierung nur noch unzureichend durch die traditionellen Vorsorgeinstrumente abgedeckt werden konnte. Die These, Bismarck habe in seiner Arbeiterpolitik die Sozialversicherung als „Zuckerbrot“ neben die „Peitsche“ des Sozialistengesetzes gestellt, reduziert die komplexen Entstehungsbedingungen der Sozialversicherung auf einen Aspekt. Ideengeschichtlich interessant ist die in Deutschland schon im aufgeklärten Absolutismus geprägte Tradition, dem Staat die Verantwortung für Wohlfahrt und Sicherheit seiner Bürger zuzuweisen.

Das 21. Jahrhundert bringt aber neue Herausforderungen für den Sozialstaat: Demographie, medizinischer Fortschritt, bildungsferne Einwanderer und prekäre Arbeitsverhältnisse sind nur einige Stichworte. Doch ein zweiter Bismarck ist weit und breit nicht in Sicht.

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