© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/11 15. Juli 2011

Pankraz,
Kassandras Auge und die Ratingagentur

Sehr komisch (aber bezeichnend) die wüsten Beschimpfungen und Drohungen der Politiker in Berlin und Brüssel gegen die Rating-agenturen, besonders als vorige Woche „Moody’s“, eine der berühmtesten, die wirtschaftliche Bonität Portugals kräftig herabstufte. Es war dies eine Zukunftsprognose, weiter nichts. Seit wann gehört es denn zu den Aufgaben der Politik, die Geschäftsprognosen privater Institute zu kriminalisieren?

Ratingagenturen sind Firmen, die gegründet werden, um der Finanzwirtschaft, Investoren oder auch bloßen Spekulanten, Anlagetips zu geben. Entweder ihre Ratschläge treffen ins Schwarze, oder sie irren sich am laufenden Band – dann können sie ihren Laden bald wieder dichtmachen, denn die Kunden bleiben aus. Was „Moody’s“ oder auch „Standard & Poor’s“ oder „Fitch“ betrifft, so waren sie bisher höchst erfolgreich, und man vertraut ihren Prognosen mittlerweile fast unbesehen. Das ist vielleicht riskant, doch was soll daran kriminell sein?

Natürlich sind die Gefahren krimineller Verfehlungen gerade im Ratinggeschäft groß. Einzelne Mitarbeiter oder die Firma im ganzen könnten beispielsweise von bestimmten Auftraggebern, sogenannten „Emittenten“, mit hohen Summen bestochen werden, um ein Unternehmen oder eine Staatswirtschaft absichtlich klein- bzw. großzurechnen, damit die Emittenten dann betrügerische Wetten auf Gewinn oder Verlust abschließen können. Das wäre also ein schweres Verbrechen, das man den Firmen freilich erst einmal exakt nachweisen müßte.

Bloßes Herumzetern staatlicherseits bringt nichts, weckt vielmehr den Verdacht, daß die EU selber als betrügerischer Emittent aktiv werden will. Die Agenturen sollen durch staatlichen Druck offenbar dazu gebracht werden, künftig gewisse Staatsfinanzen schönzureden, den Gläubigern und Investoren Sand in die Augen zu streuen, damit die Schuldenmacherei unbehelligt weitergehen kann. Anders ist die Mitteilung überhaupt nicht zu deuten, daß die EU demnächst „eigene Ratingagenturen“ gründen werde. Über die Qualität solcher Institute kann man nur lachen.

Trotzdem bleibt ein Stachel im Gemüt bei all dem Gerede. Können wirtschaftliche Prognosen, so fragt sich der bange Zeitgenosse. vielleicht allzu erfolgreich sein? Sollte man die Berichte der so treffsicheren Ratingagenturen vielleicht doch lieber, wie es früher üblich war, weitgehend geheimhalten, sie nur den direkten Kunden und nicht der großen Öffentlichkeit zugänglich machen? Es entsteht dann nämlich etwas, was Pankraz den „Kassandra-Effekt“ nennen möchte, eine böse, unheimliche Sache.

Kassandra, die berühmte Seherin der griechischen Antike, Mutter und Symbol aller Hellseherei und Zukunftsforschung, machte bekanntlich Voraussagen, die auf jeden Fall zutrafen, und sie dachte nicht daran, aus ihrem Herzen eine Mördergrube zu machen. Sie hielt mit keiner ihrer Voraussagen zurück, auch mit den allerschlimmsten nicht.

Alle ihre Seherkollegen, vom kleinsten Eingeweide-Beschauer bis hin zur großen Pythia von Delphi, pflegten sich in ihren Orakeln unklar und vieldeutig zu äußern, entweder weil sie ihrer Sache nicht sicher waren oder weil sie wußten, daß die Menschen die Zukunft gar nicht so genau wissen wollen. Allein Kassandra sprach immer klar und präzise, und sie nahm nicht das kleinste Blatt vor den Mund.

Gott Apollo, der Herr und Lehrmeister aller Seher, hatte aber einen Fluch über sie verhängt. Kassandra sprach zwar stets die Wahrheit, aber niemand glaubte ihr, sie war die reine Lachnummer – bis es schließlich zu spät war. Es bedurfte dieses Fluchs im Grunde gar nicht. Schon für die Gegenwart gilt ja, daß das Leben zur Hölle würde, wenn jemand immer sofort die volle Wahrheit ausspräche; so etwas läßt man allenfalls Kindern durchgehen. Bei Zukunftsforschern jedoch wird jede Apodiktik zum vollkommenen Ärgernis.

Wer hier beweisen könnte, daß er unbedingt recht hat, raubte den Menschen die Freiheit. Das Nichtglauben wäre die einzige Abwehrwaffe, denn schon ein halbes Sicheinlassen kann die übelsten Rück kopplungseffekte zeitigen: Man glaubt, wie Ödipus, dem Schicksal zu entfliehen, und zieht es just durch die Flucht erst richtig auf sich. Gottlob gibt es keinen Propheten aus Fleisch und Blut mit hundertprozentiger Trefferquote; gerade die Geschichte der modernen Zukunftsforschung belegt das eindrucksvoll.

Weder Rosarotseher wie der einst hochgehandelte Herman Kahn noch Schwarzseher wie Robert Jungk reichten auch nur im entferntesten an kassandrisches Format heran. Und die Computer-Hochrechnungen und ausgefeilten Methoden der Meinungsumfrage-Industrie führen heute allenfalls zu eher putzigen Rückkopplungen, auch wenn die Politiker zur Zeit noch ganz wild auf solche Meinungsumfragen sind, sich sofort dem jeweils signalisierten Trend anschließen (und ihn dadurch erst wirklich etablieren). Doch ihre Politik wird dadurch nicht realistischer, nur wirklichkeitsfremder, wie die aktuelle Lage zeigt.

Sollte aber jetzt mit den so erfolgreich operierenden Rating-agenturen „Moody’s, „Standard & Poor’s“ und „Fitch“ tatsächlich eine Instanz gefunden sein, die zumindest bei wirtschaftlichen Einschätzungen und Prognosen faktisch immer recht hat und uns also die politische Freiheit definitiv raubt? Pankraz glaubt dergleichen nicht. Doch die Politiker in Berlin und Brüssel tun zumindest so, als glaubten sie es, und rufen groteskerweise nach „eigenen“ Rechthabe-Agenturen, um ihre dubiosen Strategien mit dem Anschein der Alternativlosigkeit und der ewigen Wahrheit zu schmücken. Verrückt!

Niemand hindert sie daran, „Moody’s“ Lügen zu strafen und seine angebliche Unfehlbarkeit durch vernünftige Finanzpolitik glorios zu widerlegen! Statt dessen versuchen sie, Apollo zu spielen und die Agentursprüche, wenn sie nicht mit den ihren übereinstimmen, wenigstens zu sekretieren, so wie seinerzeit die SED in der DDR für sie unangenehme Wirtschaftsdaten eifrig sekretierte. Ganz so weit sind wir glücklicherweise noch nicht.

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