© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/11 15. Juli 2011

Bei der Masse verhaßt
Deutsche in der Kriegsgefangenschaft, Teil IX: Der Einfl uß des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ blieb gering
Hans-Joachim von Leesen

Sofort nach Kriegsausbruch begann die sowjetische Führung ihre Versuche, deutsche Kriegsgefangene für die psychologische Kriegführung zu gewinnen. Sie ging davon aus, daß es viele Sympathisanten für den Kommunismus geben müsse, hatten doch noch 1933 über 4,8 Millionen deutsche Wähler bei der Reichstagswahl der Kommunistischen Partei ihre Stimme gegeben.

Außer „einer Handvoll Überläufern“, wie sie in einer Dokumentation der den Kommunisten nicht eben fern stehenden Zeitung Junge Welt (12. Juli 2003) erwähnt wurden, fand sich kaum jemand, der sich von den Agitatoren der Komintern und von in die Sowjetunion emigrierten ehemaligen KPD-Funktionären beeinflussen ließ, auf seiten der UdSSR gegen Deutschland Propaganda zu machen. Zu den wenigen gehörte übrigens der spätere Armeegeneral der NVA und Minister der Verteidigung der DDR, Heinz Keßler. 1942 gelang es, 158 gefangene Soldaten zu bewegen, einen Aufruf zu unterzeichnen, in dem das deutsche Volk aufgefordert wurde, seine Regierung zu stürzen. Eine Wirkung hatte der „Appell“, der über der Front in Flugblättern abgeworfen wurde, allerdings nicht.

Der erste deutsche Offizier, der sich der sowjetischen psychologischen Kriegsführung zur Verfügung stellte, war Hauptmann Ernst Hadermann, ein damals 46jähriger Studienrat aus Kassel. Er unterschrieb einen Aufruf an das deutsche Volk, in dem er beteuerte, es gehe ihm nicht um ein kommunistisches Deutschland, sondern um die „Wiederherstellung der deutschen Freiheit und des Friedens“. Der emigrierte Schriftsteller Erich Weinert (Autor des Gedichtbandes von 1936 „Rot Front“ oder der „Lieder um Stalin“ von 1949) versah den Aufruf mit einem Vorwort. 500.000 Flugblätter mit dem Text wurden über den deutschen Linien abgeworfen und in Kriegsgefangenenlagern verteilt. Aber auch jetzt war keine Reaktion erkennbar.

Erst als der deutsche Vormarsch zum Stehen kam und sich mit dem Fall Stalingrads, mit dem auch zwanzig deutsche Generale in Gefangenschaft gerieten, eine Wende anbahnte, fanden die sowjetischen Agitatoren in den Lagern Gehör. Ihre Wirkung wurde verstärkt durch die grauenhaften Lebensverhältnisse der Kriegsgefangenen. Deren Todesrate lag 1943 bei 60 bis 70 Prozent. Wer sich für die „Antifa“ aussprach, wurde in besonderen Lagern mit besserer Verpflegung und angemessenen Unterkünften untergebracht. Nach der Kapitulation der Wehrmacht wurde zudem das Gerücht gestreut, die Antifa-Mitglieder würden vorzeitig in die Heimat entlassen.

Im Sommer 1943 äußerte Stalin den Wunsch, mit den antifaschistischen deutschen Aktivisten solle ein Nationalkomitee gegründet werden. Es trat ein vorbereitender Ausschuß zusammen, bestehend aus fünf emigrierten ehemals führenden Funktionären der Kommunistischen Partei Deutschlands, unter ihnen Walter Ulbricht und vier Kriegsgefangene. Die Gründung des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ (NKFD) fand am 13. Juli 1943 in der Nähe von Moskau statt. Das Wort führte Erich Weinert. Er beschwor die Zukunft Deutschlands, das in Gefahr gerate, vernichtet zu werden, wenn es den Krieg weiterführe. Daher müsse Hitler gestürzt werden. Im Aufruf wird auf kommunistische Phrasen verzichtet, im Gegenteil zeichnet er sich eher durch eine stark patriotische Note aus. Und so endete er denn auch mit den Sätzen „Für Volk und Vaterland! Gegen Hitler und seinen Krieg! Für die Rettung des deutsches Volkes! Für ein freies und unabhängiges Deutschland!“ Die Farben des Nationalkomitees waren die des Kaiserreiches: Schwarz-Weiß-Rot. Weinert hatte sich in seiner Rede ausdrücklich auf Tauroggen als Beginn der deutsch-russischen Waffenbrüderschaft berufen, die zur Befreiung Europas von der Napoleonischen Fremdherrschaft führte. 37 kommunistische Emigranten und deutsche Kriegsgefangene bildeten das Komitee und wählten zum Präsidenten Erich Weinert, zum Ersten Stellvertreter Major Karl Hetz und zum Zweiten den Leutnant Heinrich Graf v. Einsiedel. Letzterer forderte 1997 als Abgeordneter der PDS im Bundestag, „die Legende der sauberen Wehrmacht“ zu zerstören.

Trotz aller Bemühungen war es nicht gelungen, einen der zahlreichen in Gefangenschaft geratenen Generale zu bewegen, sich dem Komitee anzuschließen; allzu deutlich trat bei der personellen Besetzung der kommunistische Charakter hervor. Daher beschloß die sowjetische Führung, einen „Bund Deutscher Offiziere“ (BDO) gründen zu lassen, in dem die Kommunisten nicht in der ersten Reihe in Erscheinung traten. So bildeten das Präsidium des BDO General der Artillerie Walther von Seydlitz-Kurzbach, der als Kommandeur eines Armeekorps in Stalingrad in Gefangenschaft gegangen war, Präsident Generalleutnant Edler von Daniels, Oberst Hans-Günter van Hooven und Oberst Luitpold Steidle als Stellvertreter. Sie und etwa einhundert andere Offiziere, die bei der Gründung anwesend waren, verabschiedeten einen Aufruf an Volk und Wehrmacht, in dem sie aufriefen, die Regierung zu stürzen und „Seite an Seite mit dem Volk“ zu kämpfen, um Deutschland vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Man beendete die Tagung mit dem Absingen des Liedes „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, nachdem beschlossen worden war, daß sich der BDO dem Nationalkomitee anschließen werde. Es wurden eine vierseitige Zeitung sowie eine Illustrierte herausgegeben (Chefredakteure waren ehemalige Funktionäre der KPD), die in Lagern der deutschen Kriegsgefangenen verteilt und über der Front abgeworfen wurden. Außerdem wurde ein Sender betrieben, der Zersetzungspropaganda ausstrahlte.

Sehr bald strebte die sowjetische Führung an, Beauftragte des Nationalkomitees auch an der Front einzusetzen. Wer sich bereit erklärte, wurde in besonderen Schulen auf den Einsatz ausgebildet und unterschrieb eine Verpflichtung, in der es hieß: „Ich verpflichte mich, aus Treue zur deutschen Nation mit dem Nationalkomitee Freies Deutschland zu kämpfen.“ Kleine Gruppen, deren Stärke nicht bekannt ist, wurden eingesetzt, um eingeschlossene deutsche Truppen durch Lautsprecherpropaganda zur Kapitulation zu bewegen. General von Seydlitz-Kurzbach richtete persönliche Briefe an ihm bekannte Kommandeure, um sie aufzufordem, mit ihren Truppen zu kapitulieren oder überzulaufen. Allerdings blieb „die Zahl der Überläufer in keinem Verhältnis zu den Erwartungen und der geleisteten Arbeit“, wie Erich Weinert nach dem Krieg in seinem Buch über das NKFD schrieb. In der letzten Phase, als der Krieg schon den deutschen Boden erreicht hatte, wurden auch einzelne Mitglieder des NKFD in deutschen Uniformen durch die Frontlinte geschleust, um im Hinterland Verwirrung zu stiften. Einige davon stellten sich, andere wurden enttarnt und in der Regel erschossen, wenige kamen davon.

Kurz nach der Kapitulation der Wehrmacht wurden beide Organisationen aufgelöst; sie hatten ihre Schuldigkeit getan. Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, der sich dem NKFD 1944 nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli angeschlossen hatte, wurde von den Sowjets als Belastungszeuge gegen Keitel, Jodl und Göring bei den Nürnberger Prozessen eingesetzt. Trotz deren Belastung wurde er wieder in die Sowjetunion zurückgebracht und erst 1953 in die DDR entlassen. Die Antifa-Gruppen in den Lagern der deutschen Kriegsgefangenen hatten konkrete Aufgaben. Sie sollten die Gefangenen zu höchsten Arbeitsleistungen antreiben sowie ausspähen, wer des Antikommunismus verdächtig war. Die Untersuchungen der historischen Kommission zur Erforschung der Geschichte der Kriegsgefangenen ergaben, daß die Antifa bei der Masse der Gefangenen im höchsten Grade unbeliebt, ja verhaßt war. Man sah sie als Verräter und Kameradenschinder. In manchen Fällen wurde in der Tat die Antifa-Mitgliedschaft aktiv mit der vorzeitigen Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft honoriert. Heute haben die Mitglieder des Nationalkomitees Freies Deutschland Aufnahme in die Berliner Gedenkstätte „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ gefunden.

Fotos: Oberst Hans-Günter van Hooven; ehemaliger Armeenachrichtenführer der 6. Armee (Stalingrad), bei der Gründungsversammlung des antifaschistischen „Bundes deutscher Offiziere“ am 11. September 1943; Entfernen des NS-Emblems von der Uniform, 1944; Propaganda des Nationalkomitee Freies Deutschland vor den deutschen Linien, 1943 (v.o.n.u.): Die Farbe war Schwarz-Weiß-Rot; Hauptquartier des Nationalkomitee Freies Deutschland in der Sowjetunion 1943; DDR-Gedenkbriefmarke: In Stalins Diensten

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