© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Mauer des Schweigens
Christian Dorn

Wer vom Berliner Hauptbahnhof zum Reichstag gehen will, kann den Weg auf dem Kapelleufer längs der Spree wählen. Was heute selbstverständlich ist, endete zu Zeiten der Mauer an dieser Nahtstelle zwischen Ost und West oft tödlich, wie für das Ehepaar Elke und Dieter Weckeis, die 1968 bei ihrem Fluchtversuch von Grenzsoldaten erschossen wurden. Derzeit erinnern am Kapelleufer Schautafeln an die Geschichte der Mauer.

Erfolgversprechender schien da die vom Westen aus organisierte Fluchthilfe. Ein Spezialist auf diesem Gebiet war Burkhart Veigel. Der zum Zeitpunkt des Mauerbaus 23 Jahre alte Medizinstudent holte in den sechziger Jahren etwa 650 Menschen aus dem Ostteil der Stadt in den Westen. Das machte ihn für die DDR zu einem Hauptfeind, denn „jeder Flüchtling war eine Schelle für den Staat“, so Dietmar Arnold, Leiter des Vereins Berliner Unterwelten. Dieser betreut eine Edition, in der nun die Erinnerungen von Veigel unter dem Titel „Wege durch die Mauer“ erschienen sind.

Zur Buchvorstellung in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung würdigte am Montag Berlins ehemaliger Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen die Publikation als ein spannendes Manifest für den „Freiheitskampf“. Es sei wichtig, „daß möglichst viele dieser Geschichten erzählt werden, um über den Charakter der DDR aufzuklären“ – gerade auch mit Blick auf die Bundestagsabgeordneten der Linkspartei. Diepgen beklagte, daß die Gegenwart mit dem Begriff „Nation“ kaum etwas anzufangen wisse, aber ohne diesen, ohne den Rückgriff auf Mythen könne keine gemeinsame Identität gelingen. Zu den spannendsten Geschichten zählte Diepgen die Flucht im „Kadillack“. Hier hatte sich der Flüchtling Dieter Mitzscherling 1965 im Armaturenbrett des amerikanischen Straßenkreuzers versteckt. Zentrales Anliegen Veigels sei es, die Geschichte der Fluchthilfe vom Makel zu befreien, der ihr bis heute anhafte. Schuld daran sei gerade auch der Westen, weil er die Propagandabegriffe der DDR übernommen habe, etwa die Rede vom „Menschenhändler“.

Für den Verleger Arnold ist die Botschaft der Fluchtgeschichten aus dem „Unrechtsregime“ von bleibender Aktualität: als ein Zeugnis vom „Widerstand“, trotz „auswegloser Lage einen Ausweg zu finden“. Veigel sieht noch einen weiteren Aspekt: Sein Buch helfe, die Mythen einer „friedliebenden“ und „antifaschistischen“ DDR zu zerstören, die übrigens vorab die Todesstrafe für Veigel festgelegt hatte. Derweil sieht Diepgen die Verjährungsfristen im Rechtsstaat als einen Vorteil, da sie den Tätern eine „zweite Chance“ eröffneten: „Und das ist gut so!“ Das Publikum im Saal sieht dies anders. Einhellig empfunden wird aber der von Diepgen beklagte „Skandal“ bestehender Unterschiede zwischen Ost und West im Tarifrecht, das abhängig vom Wohnsitz sei: beispielsweise im Verkehrsrecht, wo ein Belgier höhere Schadensansprüche habe als jemand aus Magdeburg. Es sei höchste Zeit für die „Angleichung der Rechtslage“ – ein Ziel, bei dem sich der einstmals Regierende unverhofft mit der Linkspartei trifft.

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