© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

„Westliche Bildung ist Sünde“
Nigeria: Eskalation der religiösen und ökonomische Konflikte / Christen und Polizisten als Zielscheibe der Islamisten
Joachim Feyerabend

Der seit zehn Jahren schwelende Konflikt zwischen Muslimen und Christen in Nigeria nimmt immer härtere Formen an. Anfang Juli bombten militante Islamisten der erst 2004 von Studenten gegründeten Sekte Boko Haram („Westliche Bildung ist Sünde“) ein Bierlokal aus, mehr als 30 Menschen fanden den Tod. Wenig später wurden in derselben Stadt Maiduguri vier Polizisten und ein örtlicher Politiker niedergeschossen. Es flogen – so der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira –  auch Sprengsätze.

Boko Haram zeichnet 2010 und 2011 für eine ganze Serie von Morden an Polizei-Offizieren, Klerikern, Soldaten und Politikern verantwortlich, denen ein verwestlichter Lebensstil nachgesagt wird. Auch Gefängniserstürmungen und Überfälle gehören zum Repertoire der gewaltbereiten Sekte. Sie erkennt weder die Regierung in Abuja, Hauptstadt Nigerias, noch die Verfassung des Landes an. Ihr erklärtes Ziel ist die Errichtung eines Gottesstaates nach streng islamischem Recht. Gegenwärtig herrscht in Abuja aus Furcht vor weiteren Attentaten sogar eine Ausgangssperre.

Der Feuerüberfall auf die Biergarten-besucher kennzeichnet eine neue Qualität der Attacken. Sie konzentrieren sich nicht mehr nur auf Christen, sondern auf die gesamte Bevölkerung, sofern sie in den Augen der Boko-Haram-Führer die Gebote des Islam mißachtet, beispielsweise den verbotenen Genuß alkoholischer Getränke praktiziert, leichte Bekleidung trägt und außereheliche Kontakte zum anderen Geschlecht pflegt.

Die brutalen Überfälle gelten als Antwort auf die kürzliche Verhaftung von hundert key cell commanders in den Staaten Bauchi, Borno, Kaduna, Kano, Yobe und Adamawa. Zudem wurde unter ungeklärten Umständen der Sektenführer Mohammed Yusuf während einer Militärkampagne getötet, bei der zudem rund 800 Rebellen den Tod fanden.

  Das Attentat ist nur eines von vielen in diesem führenden Öl-Staat des westlichen Afrika mit seinen 150 Millionen Einwohnern, seit sich die islamische Rechtsordnung der Scharia im Norden des Landes etabliert hat und nun auch nach dem christlich-animistischen Süden zu greifen versucht. Und Boko Haram ist nur eine der im Namen des Islam marodierenden Bewegungen. Inzwischen wird die Scharia im Norden, trotz in der Verfassung garantierter Religionsfreiheit, rigoros auch auf andere Glaubenszugehörigkeiten angewendet.

  Menschenrechtsverletzungen, Kinderarbeit und Folter sind an der Tagesordnung, ebenso wie Hinrichtungen und Überfälle. Nach Schätzungen des nigerianischen Roten Kreuzes sind während der Pogrome seit dem Jahr 2001 (meist von Muslimen gegen Christen) mehr als 10.000 Menschen ermordet worden. Allein nach den Präsidentschaftswahlen starben bei Unruhen im Mai 800 Bürger.

Die militante Sekte lehnt jedweden westlichen Lebensstil grundlegend ab, selbst der Besitz von Möbeln wird als sündhaft erachtet. Sich selbst bezeichnen die Sektenmitglieder als „afrikanische Taliban“. Der harte Kern wird von den Behörden auf etwa 1000 Mitglieder geschätzt, die allerdings über ein großes Heer von Sympathisanten verfügen. Enge Kontakte zur Terrororganisation al-Qaida und in den Jemen sind erwiesen, ebenso die Ausbildung von Kämpfern in Somalia.

Der neugewählte christliche Präsident Goodluck Jonathan sieht sich – so Abubakar Umar Kari, Präsident der Universität von Abuja – hier seiner größten Herausforderung gegenüber. Im schlimmsten Fall drohe eine Spaltung des Landes, wie im Sudan in einen nördlichen muslimischen und einen südlichen christlichen Teilstaat. In zwölf  Bundesstaaten herrscht die Scharia, sie bieten sich als Einheit an. Unterstützt werden sie mit Geldern für den Moscheenbau und die Ausbildung von Imamen schon heute von Afghanistan, dem Chad, Libyen, Pakistan, Saudi Arabien und dem Sudan. Allerdings sind auch 25 Prozent der Bevölkerung christlich und hier geht vor allem seit den Massenmassakern der Dschihadisten und täglichen Scharmützeln im sogenannten mittleren Plateau die Angst um (in 14 Monaten über 1.000 Tote) – Tagesalltag, der an den Nerven zerrt und lähmt. 

Der Religionskampf in Nigeria hat allerdings auch einen wirtschaftlichen Hintergrund. Denn in der Provinz gelten Muslime als „Siedler“ und werden so von einigen politischen Positionen ausgeschlossen. Am Ölreichtum des Landes, das weltweit zu den führenden Produzenten gehört und von Amerikanern, Engländern, Franzosen und Chinesen als eine Art „Bonanza“ betrachtet wird, hat die Bevölkerung ohnehin keinen Anteil.

Eine der weltweit höchsten Korruptionen beherrscht das Tagesgeschehen. Öldiebstahl, Kidnapping und Autonomiebestrebungen einzelner Volksgruppen, von denen 250 mit rund 500 Sprachen existieren, sind an der Tagesordnung. Der Glamour der Metropole Lagos (10 Millionen Einwohner), des ökonomischen und finanziellen Zentrums, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bevölkerung des Landes von Armut heimgesucht ist. Trotz der Worte des selbsternannten Propheten Kelvin Adebayo, der in Lagos durch die Gassen zieht und verkündet „Es gibt keinen Unterschied zwischen Muslimen und Christen, sie alle sind Kinder Abrahams“, der Staatsapparat bleibt fragil, auch wenn es in der Nationalhymne zudem heißt: „Vereinigt in Freiheit, Frieden und Einigkeit“.

Foto: Anschlag auf Polizeiquartier in der Hauptstadt: Werk der Boko Harum

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