© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

„ …und die Klampfe in der Hand“
Weltflucht und Aufbruch zu neuen Ufern: Vor hundert Jahren, im Sommer 1911, schwang sich der Wandervogel zum Höhenflug auf
Klaus Bruske

Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land. Den Beutel auf dem Rücken, die Klampfe in der Hand“, klingt es in Thüringens heimlicher Nationalhymne, im vor sechzig Jahren, am 14. April 1951, vom singenden Suhler Friseurmeister Herbert Roth vertonten und uraufgeführten „Rennsteiglied“ über Wälder und Höhen. Die Traditionslinie, in der Herbert Roth damals stand, aber reichte fast nochmals ein halbes Jahrhundert zurück. Sein Rennsteiglied war ohne die „Wandervogel-Bewegung“ schwer denkbar. Der stets auch musizierende Wandervogel, heute längst selbst zum geflügelten Wort geworden, entwickelte sich vor hundert Jahren, im Sommer 1911, zur Massenbewegung einer ganzen Generation.

Im Winter 1911 war in Berlin der „Verband Deutscher Wandervögel“ (VDW), gegründet worden. Jetzt zur Sommerszeit traten der betont deutschnationale „Österreichische Wandervogel“ sowie weitere reichsdeutsche Wandervögel-Bünde und -Ortsgruppen hinzu. Etwa 50.000 Jugendliche, davon etwa schon ein Viertel Mädchen und junge Damen, gingen damals regelmäßig, in größeren und kleineren Gruppen, bei Wind und Wetter, den Rucksack auf dem Rücken, die Klampfe sowie ihre Liedsammlung „Zupfgeigenhansl“ in der Hand auf Wanderschaft und Heimaterkundung.

Sie übernachteten im Zelt, brutzelten sich unter freiem Himmel ihre einfachen Mahlzeiten am offenen Lagerfeuer. Die Wandervögel nahmen mit einer Schütte Stroh in der Bauernscheune, im Pfarrhaus oder im dörflichen Schulhaus vorlieb. Sie suchten (damals wurden die ersten deutschen Jugendherbergen, zumeist in alten Burgen, sowie erste Landheime eröffnet) in unbequemen Dreifachstockbetten eine Mütze voll Schlaf.

Heute gilt der am 4. November 1901 von Gymnasiasten in Steglitz im Kreis Teltow in der preußischen Provinz Brandenburg (Steglitz galt damals noch mit 85.000 Einwohnern als das größte Dorf Deutschlands und kam erst 1920 zu Groß-Berlin) ins Leben gerufene, die gesamte Weimarer Zeit verbreitete, dann aber ab 1933 von der Hitlerjugend aufgesogene Wandervogel als die erste eigentliche und eigenständige Jugendbewegung in Deutschland.

   Vom Wandervogel ging – im Guten und im Bösen –  ein Fächer von Traditionslinien aus. Bis hin zu den Zelt-, Ferien-, später auch Militärlagern der HJ oder den Pionieren, der FDJ und der GST (Gesellschaft für Sport und Technik) in der DDR sowie natürlich zu den vielen bis heute bestehenden, selbstredend allesamt nicht mehr staatstragenden Wander(vogel)vereinen, -gruppen und -grüppchen.

Wo aber lag die Ursache dieses scheinbar urplötzlichen Aufbruchs der fast ausschließlich bildungsbürgerlichen Jugend an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert? Der zumeist lang und schwer arbeitenden Proletarier-Jugend in den engen Mietskasernenvierteln der deutschen Großstädte blieben mangels Geld und Freizeit solche „Eskapaden“ noch verwehrt – ebenso natürlich der immer noch großen bäuerlichen Gesellschaftsschicht. Das Wandervogel-Phänomen, das anfangs wenig mit gesunder Lebensweise, dafür aber um so mehr mit Generationskonflikt und Protest der Jungen gegen das „verstaubte“ Alte zu tun hatte, läßt sich nur aus den großen Linien und Widersprüchen der Zeit heraus verstehen und erklären.

Das 1871 von Bismarck mit „Blut und Eisen“ geschmiedete Zweite Kaiserreich, das sich damals unter Einschluß der wiedergewonnenen alten Reichslande Elsaß und Lothringen bis nach Ostpreußen, also von der Maas bis an die Memel, erstreckte und 1911 bereits an die 65 Millionen – demographisch deutlich jüngere als heute! – Einwohner zählte, war vor einem Jahrhundert ein Widerspruch in sich. Deutschland erschien seinen erstaunten Nachbarn gleichsam als ein mental zwischen der im nachhinein romantisierten, vorindustriellen Vergangenheit und der hochindustrialisierten Gegenwart oszillierendes Zwitterwesen, gleichsam als ein einziger gesellschaftlicher Januskopf.

Auf der einen Seite hatte unser vor dem Ersten Weltkrieg noch sehr kinderreiches Land im Herzen Europas in kürzester Zeit eine erstaunliche Erfolgsgeschichte vorgelegt. Deutschland sowie in seinen fortgeschrittensten Landesteilen auch Österreich-Ungarn hatten sich während des „Sieben-Meilen-Stiefel-Jahrhunderts“ von 1800 bis 1900 technologisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich – allesfalls von den USA übertroffenen – zum führenden Ergebnis-Staat der „Industriellen Weltrevolution“ emporgereckt. Das von der führenden Weltmacht England mit diskrimierender Absicht eingeführte „Made in Germany“ für deutsche Erzeugnisse wurde rasch zum Gütesiegel.

Andererseits kam nicht allein die „klassenbewußte“ Arbeiterschaft, sondern auch ein Teil der den wilhelminischen Staat tragenden Elite, vor allem das aufstrebende Bildungsbürgertum, mit dem Preis, der für den sich jetzt überschlagenden Fortschritt zu zahlen war, nicht zurecht. Jenes „Jammertum“ erfaßte auch die heranwachsende Generation des Bürgertums, die allein den immensen Erfolg und seine unerwünschten Nebenwirkungen, nicht aber die Kämpfe um Einheit un Freiheit und die Not der Zeit vor der Reichseinigung von 1871 aus eigenem Erleben kannten. Jene konstruierten sich nun im Wandervogel das Idealbild einer jugendlichen Gegenwelt. „Die Wandervögel verachteten das Großstadtleben und seinen Amüsierbetrieb, seine Hektik, seinen schalen Lebensgenuß“, ordnet etwa Annemarie Weber in ihrer soziologischen Studie „Immer auf dem Sofa – Das familiäre Glück vom Biedermeier bis heute“ ein.

So huldigte denn auch diese Jugend mit ihrer Flucht in Gottes freie Natur dem zwiegesichtigen, da zugleich in die Vergangenheit und in die Zukunft blickenden Gott Janus. Die Wandervögel zelebrierten zeitgleich die Weltflucht und den Aufbruch zu neuen Ufern. Daß sie damit an Riten der wandernden Handwerksgesellen zu vorindustriellen Zeiten anknüpften ist ein Beleg dieser romantischen Sehnsucht aus der Tristesse der „grauen Städte Mauern“. Sich frei und fröhlich an frischer Luft in Gemeinschaft Gleichgesinnter körperlich und geistig zu bewegen, war zumindest ein richtungsweisender Pfad daraus. Ebenso die einfache Lebensweise, die Gruppenfahrten zu den schönsten Stätten der heimatlichen Natur, der Kultur- und Baugeschichte, das gemeinsame unbeschwerte Feiern, ja der ganze von den Wandervögeln bereits als „ganzheitliche Ausdrucksweise“ verstandene naturnahe Lebensstil – all das wies um 1911 in spätere Phänomene wie Reformpädagogik, Freikörperkultur oder Lebensreformbewegung.

„Auch eine neue Musikbewegung gab es“, anerkennt Annemarie Weber: „Das Volkslied wurde wiederentdeckt, der Volkstanz, die Volkstracht und das Laienspiel, alte Reigen, Landstraßenlieder, die Klampfe als Begleitinstrument, schön bebändert zu volkstümlichem Singen (…) Bald lagen Liederbücher vor, schon im Jugendstil gedruckt und illustriert, und das Unglaubliche ereignete sich: Junge Männer und junge Mädchen zogen gemeinsam hinaus in die Natur. Das Miteinander der Geschlechter im Wandervogel war so sittenrein, daß der leiseste Verdacht eine tiefe Kränkung gewesen wäre. ‘Rein bleiben und reif werden!’: Rein blieben die Jünglinge so wie die Mädchen; auch war der Genuß von Alkohol auf den Fahrten der Wandervögel natürlich verboten. Sie waren sauber, tief anständig – so hingegeben an ihre Ideale, wie deutsche Bürgerskinder es nur sein konnten.“

Fotos: Wandervogelbuch im Jugendstil, österreichische Wandervögel um 1911, Auszug aus dem Zupfgeigenhansl: Sie verachteten das Großstadtleben und seinen Amüsierbetrieb, seine Hektik, seinen schalen Lebensgenuß; Karl Fischer (1881–1941), Steglitzer Gründer der Wandervogel-Bewegung: „Rein bleiben und reif werden!“

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