© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/11 29. Juli / 05. August 2011

Sehnsuchtsland Ostpreußen
Vergangenheit, die nicht vergeht: Eine Reportage aus dem alten deutschen Osten
Matthias Bäkermann / Felix Krautkrämer

Die Hitze des Tages kocht noch über dem leicht hügeligen Feld, als sich die Sonne über dem kleinen Dorf Grünfelde niedersenkt. Gegen Mittag des 15. Juli hatte es noch gut für das Ordensheer ausgesehen, die litauischen und tatarischen Truppen flohen arg dezimiert in östliche Richtung der Maransesümpfe. Doch jetzt erschallt vielkehlig die „Bogurodzica“, das polnische Schlachtlied zu Ehren der Gottesmutter, und kündet den Sieg. Gefallene und verwundete Ordensritter sind dennoch nicht zu sehen. Diese ziehen schon in trauter Eintracht mit polnischen Streitern den umherstehenden Zelten zu, um sich mit Bier und Würsten zu stärken.

Auch zum 601. Jahrestag der Schlacht von Tannenberg von 1410, mit etwa 40.000 Kämpfern eines der größten Gemetzel des Spätmittelalters, ist die masurische Gegend nördlich von Neidenburg Ziel von Tausenden Polen. Mittelalterbegeisterte Reenactment-Darsteller, Schaulustige und Händler bevölkern den „Gedächtnispark“ von Grunwald. Unter diesem Namen ist die Schlacht in Polen jedem Kind bekannt, der Sieg des Königs Jagiełło über den Deutschen Orden ein nationaler Mythos. Unweit des großen Grunwald-Obelisken wirbt heute die polnische Armee mit einem Spähpanzer um Aufmerksamkeit, nationalpolnische Devotionalien sind an vielen Ständen zu erwerben. Ausländische Stimmen hört man bei diesem Spektakel kaum. Einzig einige hundert Meter abseits, an der zerstörten Kapelle, einst zu Ehren des gefallenen Ordenshochmeisters Ulrich von Jungingen gebaut, fällt ein versonnen auf den Steinfundamenten sitzendes Paar mittleren Alters auf. Und tatsächlich läßt sich beim Näherkommen Deutsch vernehmen.

Daß sie ausgerechnet am Jahrestag der Schlacht hierher gekommen sind, ist Zufall. Sie stammen aus Süddeutschland und sind zum ersten Mal in Ostpreußen. „Meine Frau und ich sind beide geschichtlich sehr interessiert. Daher war der Besuch an dieser Stätte für uns ein absolutes Muß.“ Als nächstes wollen sie weiter nach Hohenstein, wo einst das Tannenberg-Denkmal an die siegreichen Kämpfe gegen die Russen Ende August 1914 erinnerte. „Damals haben wir die Schmach von 1410 wieder wettgemacht“, meint der Mann lachend, bevor sich beide auf den Weg machen.

Knapp zwanzig Kilometer entfernt bei Hohenstein (Olsztynek) ist von dem einst so imposanten Bau mit seinen acht Türmen nichts mehr zu entdecken. Meterhohe Brennesseln, Dornengestrüpp und Büsche haben die wenigen steinernen Überbleibsel überwuchert. Es fällt schwer, sich vorzustellen, daß hier von 1927 bis 1945 das wohl bekannteste deutsche Ehrenmal für den Ersten Weltkrieg stand. 1934 fand Reichspräsident Hindenburg hier seine letzte Ruhestätte, genauso wie die Gebeine der zwanzig unbekannten Soldaten, die hier symbolisch für Tausende namenloser deutscher Weltkriegsgefallene in die ostpreußische Erde gebettet worden waren. Im Januar 1945 wurde des Denkmal von deutschen Truppen auf dem Rückzug vor der Roten Armee gesprengt, die Särge von Hindenburg und seiner Frau nach Thüringen in Sicherheit gebracht.

Die Überreste der zwanzig unbekannten Soldaten jedoch ruhen noch heute hier, auch wenn es keinen Hinweis mehr auf sie gibt. Die Polen trugen das Denkmal in den fünfziger Jahren restlos ab und verwendeten die Steine zum Wiederaufbau Warschaus und Allensteins. Seitdem verwildert das Gelände. Touristen verirren sich kaum hierher. Für Polen ist dieser abgelegene Ort ohne Belang, die Deutschen, denen Hindenburgs Rettung ihrer Heimat 1914 noch etwas sagen dürfte, werden immer weniger. Vertriebene trifft man ohnehin kaum noch. Die Reisebusse der „Heimwehtouristen“, in den neunziger Jahren überall präsent, sind verschwunden. Deutsche, die heute kommen, haben andere Interessen. Den pensionierten Marineoffizier mit seiner Frau, die nachdenklich vor dem Gedenkstein für Stauffenberg an der Baracke des Hitlerattentats stehen, zog der Touristenmagnet des Führerhauptquartiers „Wolfsschanze“ bei Rastenburg (Kętrzyn) an. „Wir sind auf der Durchreise nach Lettland“, bekunden diese Flensburger. „Vertriebenenhintergrund“ in Ostpreußen haben sie keinen.

Dieser findet sich überraschenderweise selbst nicht in jener Seniorentruppe, die vor der Rastenburger St. Georgskirche aus dem Reisebus mit Celler Kennzeichen steigt. Die einzige Ostpreußin, die ursprünglich mitfahren wollte, „ist vor kurzem gefallen“, beklagt ihre Freundin, während der Busfahrer den Gehwagen der hochbetagten Dame aus dem Stauraum birgt. „Ich fahre hauptsächlich älteres Publikum, aber kaum mehr Heimwehtouristen“, erklärt der Chauffeur, „in letzter Zeit kommen aber immer mehr jüngere Familien, die hier den Wurzeln ihrer Ahnen nachspüren.“ Die meisten, meint er, reize einfach die traumhafte Landschaft. Wie das Ehepaar Anfang 40 aus Gütersloh, eigentlich Badeurlauber an der pommerschen Ostseeküste, die allein ihre touristische Neugier an die masurischen Seen führt, „wenn wir schon einmal da sind“.

Und in der Tat: Die Weite und die Einsamkeit des Landes ziehen jeden Ostpreußenreisenden in ihren Bann. Wer sich Zeit nimmt, diese frühere ostdeutsche Provinz auf eigene Faust zu erkunden, bekommt eine Ahnung davon, warum viele der Vertriebenen ihr Heimweh nie überwinden konnten. Die Wälder und Seen, die bis zum Horizont reichenden Weiden und vor Kraft strotzenden Felder, auf denen der Weizen golden schimmernd im Wind wiegt. Die von Eichen gesäumten uralten, aus Pflastersteinen angelegten Alleen, die sich kilometerweit von einem Dorf zum anderen ziehen. Die aus Backsteinen gemauerten Kirchen und Gehöfte, die Zeugnis ablegen von der über Jahrhunderte gewachsenen Kultur Ostpreußens. Und natürlich die Ostseestrände und das Haff. Sie alle machen dieses Land zu einem unvergeßlichen Sehnsuchtsort.

Auch wenn sich die Polen nach 1945 bemüht haben, die deutsche Geschichte Ostpreußens zu tilgen, sie findet sich dennoch überall. Ob die imposante Marienburg, stolze Machtkulisse des Ordensstaates, oder die tausendjährige Eiche in Cadinen, Zeuge vom Kommen und Gehen der Deutschen jenseits der Weichsel, in deren hohlen Stamm einst schon Wilhelm II. seinen Enkel Louis Ferdinand auf dem Schoß wog. Ob Frauenburg mit seinem Dom und dem Grab von Nikolaus Kopernikus oder das sich daran anschließende Frische Haff, das im Frühjahr 1945 für Tausende Flüchtlinge zur Rettung, für viele aber auch zum nassen Grab wurde. Knapp siebzig Jahre reichen nicht aus, um 700 Jahre deutsche Geschichte auszulöschen. Mit welcher Skrupellosigkeit das versucht wurde, zeigt sich beispielsweise in Allenstein. Der einstige Stadtfriedhof wurde von den Polen eingeebnet. An seiner Stelle ist heute ein Park. Nichts sollte mehr daran erinnern, daß dies einmal eine deutsche Stadt war. Aus den Kriegerdenkmälern schlug man, wie überall im Land, die Namen heraus, Inschriften auf Häusern wurden übermalt, sämtliche Straßen umbenannt.

Die Welt der Güter, darunter bekannte Adelssitze prominenter preußischer Geschlechter wie Dohnas, Dönhoffs oder Lehndorffs, ist ebenfalls mit den Deutschen untergegangen. Auch wenn viele hundert dieser nicht selten feudalen Landsitze das Bild dieser Landschaft immer noch prägen, kann man von einer Güterkultur kaum noch sprechen. Beim Anblick der Gemäuer in Finckenstein will einem der begeisterte Ruf Napoleons, „Enfin un château“, im Halse stecken bleiben. Viel Phantasie ist nötig, um in der Ruine „ein Schloß“ zu erkennen, das der kleine Korse 1807 kurzzeitig zum Aufenthalt nutzte. Der riesige Park ist eine verwunschene, zugewucherte Ödnis, die seit 1945 ausgebrannten Schloßmauern harren noch dem Zusammenbruch.

Noch schlimmer ist der Zustand des Gutes Neudeck unweit von Deutsch Eylau (Iława). Selbst die Grundmauern dieses Domizils – Eigentümer war Paul von Hindenburg – sind nicht mehr aufzuspüren, nur die Nebengebäude lassen den Standort dieses Gutes erahnen. Das berühmte Schloß Steinort der Familie Lehndorff, idyllisch zwischen Mauer- und Dargainensee unweit von Angerburg (Węgorzewo) gelegen, hat Krieg und Nachkrieg überdauern können. Doch obwohl mittlerweile der neue Eigentümer, die „Deutsch-Polnische Stiftung Kulturpflege und Denkmalschutz“ ein Begegnungszentrum plant und um Spenden bittet, ist die Rettung des völlig heruntergekommenen Steinort bisher nur hehre Absichtsbekundung. Etwas besser sieht das Dönhoffsche Schloß Quittainen bei Preußisch Holland (Pasłęk) aus, das nebenstehende Rentamt, von dem 1945 die spätere Publizistin Marion Gräfin Dönhoff zur Flucht aufbrach, ist allerdings völlig verfallen. In Groß Schwansfeld hingegen, zwölf Kilometer von Bartenstein (Bartoszyce) entfernt, präsentiert sich mit dem früheren Besitz des Geschlechtes von der Groeben ein Kleinod wiederhergestellter ostpreußischer Schloß- und Güterarchitektur.

Die Restaurierung auf die Spitze getrieben wurde beim eher unscheinbaren Rittergut Gartenpungel zwischen Mohrungen (Morąg) und Guttstadt (Dobre Miasto). Der heutige Besitzer, ein Hamburger Kaufmann, hat dem Haupthaus mit Flügel nach 1989 aus Gründen der Symmetrie sogar noch einen zweiten Flügel angebaut. Leo Stuhrmann, der 1945 als Zwölfjähriger mit seinen fünf Geschwistern und der Mutter von Gartenpungel über das zugefrorene Haff nach Westen floh, kann sich noch an den völlig verdreckten und verkommenen Zustand erinnern, als er 1975 das erste Mal auf das nun zur Kolchose umgewandelte Gut seiner Familie zurückkehrte. „Die Ställe waren nicht ausgemistet, und die dort wohnenden drei polnischen Familien hatten große Angst vor mir als altem Besitzer“, so Stuhrmann zur JF. Mittlerweile ist der 78jährige wieder gern gesehen auf dem Gut, auf dem sein im Krieg gefallener Vater der letzte Herr war. Über eine Zeitungsanzeige habe der neue deutsche Besitzer 1990 seinen Kontakt gesucht, Stuhrmann genießt heute freien Zutritt und wohnt kostenlos auf Gartenpungel. Dafür lotst der an der Nordsee lebende Rentner seit vielen Jahren Norddeutsche nach Ostpreußen, dem Hotelbetrieb auf der heutigen Anlage zum Nutze. Wie die Autokennzeichen vor dem Gut verraten, entdecken aber zunehmend polnische Touristen aus Warschau, Krakau oder Posen Gartenpungel als Urlaubsziel.

Eine Entwicklung, die auch Horst Kruska im etwa 150 Kilometer entfernten Wigrinnen (Wygryny) bestätigt: „In den letzten Jahren sind immer weniger Deutsche hierher gekommen. Die Heimatvertriebenen sind mittlerweile zu alt für eine so weite Reise, und die Enkel haben kein Interesse. Dafür kommen immer mehr polnische Familien.“ Kruska ist unter deutschen Ostpreußenurlaubern so etwas wie eine Legende und gilt als Tourismus-Pionier. Bereits in den frühen siebziger Jahren begann der gelernte Malermeister auf einem kleinen Stückchen Land am Beldahnsee mit dem Aufbau eines Zelt- und Campingplatzes. Anfangs noch ein Geheimtip, entwickelte sich der Betrieb nach und nach durch Mundpropaganda zu einer festen Anlaufstelle vieler Ostpreußenreisender. Mit ihnen fuhr Kruska auch zu ihren früheren Wohn- und Geburtsorten und bot seine Dienste als Dolmetscher an.

Wie so viele andere Deutsche hatte auch er in den fünfziger Jahren versucht, in die Bundesrepublik auszureisen. Zu schlimm waren die Erlebnisse bei Kriegsende und zu groß die Angst vor den neuen Herren im Land. „Es war furchtbar, als die Russen kamen. Das waren keine Menschen. Die haben junge Mädchen vergewaltigt und alte Leute erschossen. Uns ließen sie fast verhungern“, erzählt der heute 76jährige mit noch immer zitternder Stimme. Auch sein Großvater wurde erschossen. Seinen Vater verschleppten die Russen 1948 zur Zwangsarbeit in den Ural. Erst Jahre später kehrte er zurück – als gebrochener Mann. Sieben Anträge auf Ausreise stellte Horst Kruska in der Folgezeit. Alle wurden von den polnischen Behörden abgelehnt. Handwerker wie er wurden gebraucht.

Heute ist Kruska froh, geblieben zu sein. Er ist so etwas wie das deutsche Gedächtnis von Wigrinnen. Ende Juli feiert das Dorf sein 300jähriges Bestehen. Für die geplante Ausstellung hat Kruska mehrere alte Fotos beigesteuert. Der Bürgermeister ist dankbar dafür, denn niemand der nach 1945 hier angesiedelten Polen besitzt solche Fotos. Auch verfügt Kruska über eine Liste mit den Namen und Berufen der Menschen, die früher hier lebten. Auch an sie will er in der Ausstellung erinnern, um so dafür zu sorgen, daß die deutsche Geschichte von Wigrinnen nicht in Vergessenheit gerät.

Fotos: Vorwerk eines ostpreußischen Gutes zwischen Rastenburg und Bartenstein; die Autoren am Jungingenstein auf dem Tannenberger Schlachtfeld: Die Schönheit Ostpreußens macht dieses Land zu einem unvergeßlichen Reiseerlebnis; Gut Quittainen mit Verwalterhaus bei Preußisch Holland (Pasłęk): Die Welt der Güter ist 1945 untergegangen; Steinort am Dargainensee: Deutsch-polnische Stiftung plant Rettung des verfallenen Lehndorff-Schlosses; Schloß Finckenstein von 1720 bei Rosenberg (Susz): Inmitten einer verwunschenen, zugewucherten Ödnis; Rittergut Gartenpungel bei Liebstadt (Miłakowo): Der 1945 geflohene Sohn des letzten Besitzers ist heute auf dem restaurierten Gutshof ein gerngesehener Gast; St. Georgskirche in Rastenburg: 700 Jahre deutsche Geschichte; Horst Kruska und Frau: Geheimtip; Typische masurische Allee, Ordensritterdarsteller bei Tannenberg: Der Sieg des Königs Jagiełło über den Deutschen Orden ist in Polen ein nationaler Mythos

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