© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/11 29. Juli / 05. August 2011

Groteske Ruhe am Ende Europas
Zu Besuch in Narwa: An der alten Kulturgrenze zwischen West und Ost finden sich nur noch wenige deutsche Spuren / Nur der „Lange Hermann“ hält die Stellung
Detlef Kühn

Der Narowa-Fluß markiert eine der ältesten Kulturgrenzen Europas. Seine „Quelle“ ist der riesige Peipussee, durch den heute die Grenze zwischen Estland und Rußland verläuft. Nach nur 75 Kilometern mündet er bei dem Badeort Hungerburg/Narva-Jõesuu in den Finnischen Meerbusen der Ostsee. Dreizehn Kilometer vor der Mündung liegen bei der Stadt Narwa/Narva zwei mächtige Burgen: links auf dem Westufer des Flusses die vom Deutschen Orden im 14. Jahrhundert errichtete steinerne Hermannsfeste; genau gegenüber, nur einen Steinwurf entfernt, auf der Ostseite die 1492 vom russischen Zaren Ivan III. als Gegenstück erbaute Festung Ivangorod. Eindrucksvoller als durch dieses Festungspaar kann der bald tausend Jahre alte Gegensatz von Ost und West in Europa wohl kaum illustriert werden.

Die Stadt Narwa, durch die die Verbindungsstraße von Reval/Tallinn in das nur 130 Kilometer entfernte St. Petersburg verläuft, liegt heute an der nordöstlichen Außengrenze der Europäischen Union. Die Nachfolger der Zaren (und der sowjetischen Führer) im Moskauer Kreml konnten sich bislang nicht entschließen, diese Grenze völkerrechtlich verbindlich anzuerkennen. Schließlich gehörte Estland von 1721 bis 1918 und – nach 20jähriger Unabhängigkeit – nochmals von 1940 bis 1991 zu Rußland und zur Sowjet­union. Den erneuten Verlust hat man im Kreml noch nicht verwunden. Besonders schmerzt die Zugehörigkeit der baltischen Staaten zur Nato, dem schließlich doch siegreichen Feind aus der Zeit des Kalten Krieges.

Dieser historische Hintergrund weckt Erinnerungen an die erste Begegnung mit Narwa vor fast 30 Jahren. Der westdeutsche Tourist mit baltischen Vorfahren durfte sich damals nur in den Hauptstädten der Sowjetrepubliken Estland und Lettland, Tallinn und Riga frei bewegen. Andere Städte und das flache Land waren verboten und praktisch unerreichbar. Da weckte es schon die Neugier, daß das Reisebüro für den Transport von Tallinn nach Leningrad nicht das Flugzeug vorschrieb, sondern eine Busfahrt anbot. Endlich mal eine Chance, etwas mehr von Land und Leuten zu sehen. Vielleicht gab es ja sogar die Möglichkeit, in Narwa eine Kaffeepause zu machen und auf den Spuren der Vorfahren Schwartz und Nummens zu wandeln, die dort im 17. Jahrhundert zur Schwedenzeit als Hanse-Kaufleute im Handel mit Nowgorod und als Bürgermeister gewirkt hatten. Wer so dachte, hatte jedoch die Rechnung ohne die energische sowjetische Reiseleiterin gemacht, die offenbar Anweisung hatte, Pausen erst im eigentlichen Rußland und nicht noch im Baltikum einzulegen. Sie wollte Narwa mit seiner Brücke über den Fluß ohne Halt so schnell wie möglich passieren. Allerdings hatte sie nicht mit den schwachen Blasen ihrer Kunden gerechnet, von denen einige drohten, den Bus verschmutzen zu müssen, wenn nicht sofort angehalten würde. So gab es schließlich doch einen außerplanmäßigen Stopp und damit die Möglichkeit, zu Fuß „im Schweinsgalopp“ die trostlosen Reste der einstmals wunderschönen barocken Altstadt, zu der Zeit völlig abgeräumt, zu erkunden.

Wer heute nach Narwa kommt, findet eine Grenz- und Industriestadt mit zu 95 Prozent russischer Bevölkerung, deren Vorfahren meist erst in sowjetischer Zeit dort angesiedelt wurden. Der ursprünglich deutsche Charakter der historischen Altstadt wurde 1944, als die Ostfront ein halbes Jahr an der Narowa stand, weitgehend vernichtet. Nach dem Krieg wurde nur das Rathaus aus dem 17. Jahrhundert rekonstruiert – weil hier 1918 die Kommunisten eine kurzlebige estnische Sowjet-Republik ausgerufen hatten.

Nach dem Ende der Sowjetunion sind noch zwei oder drei weitere historische Privathäuser (und natürlich die ebenfalls beschädigte Hermannsfeste mit dem 15stöckigen Museums- und Aussichtsturm „Langer Hermann“) hinzugekommen. Ansonsten macht Narwa heute den Eindruck einer typisch russischen Stadt, deren Bevölkerung allerdings den der Infrastruktur zugute kommenden Geldsegen aus Brüssel durchaus zu schätzen weiß. Das Geschichtsbewußtsein der Stadtväter und -mütter von Narwa hat sich jedoch ebenfalls entwickelt und reicht heute weit über die erwähnten kommunistischen Anfänge nach dem Ersten Weltkrieg zurück.

Bei archäologischen Ausgrabungen werden Überreste der Altstadt geborgen und liebevoll im Museum „Langer Hermann“ präsentiert. So findet der hastige Besucher des sowjetischen Narwa von einst jetzt, über ein Vierteljahrhundert später, doch noch originale Spuren seiner Vorfahren: eine recht gut erhaltene steinerne Kartusche mit der Inschrift, die der aus Lübeck stammende Narvaer Kaufmann Levin Nummens an dem prächtigen Neubau seines Hauses über der Haustür im Jahre 1651 anbringen ließ. Das Haus selbst ist freilich nur noch auf historischen Fotos zu bewundern.

Eine direkte Verbindungsstraße entlang der Narowa zwischen Narwa und dem am Abfluß aus dem Peipussee gelegenen idyllischen Dörfchen Vasknarva existiert nicht. Wer hierher mit dem Auto fahren will, muß erst einmal weit nach Westen ausholen und sich dann durch ausgedehnte fast menschenleere Waldgebiete, die teilweise sumpfigen Charakter haben, wieder nach Osten durchschlagen. Hier kann schon der Eindruck entstehen, man habe das Ende der bewohnten Welt erreicht. Das war vor 600 Jahren nicht anders.

Immerhin errichtete der Deutsche Orden auch hier zur Grenzsicherung eine Burg (Neuschloß/Syrenetz, estnisch Vasknarva genannt), deren Reste unmittelbar am Ufer nach einem wechselhaften kriegerischen Schicksal noch immer beeindrucken. Damals lebten hier Woten, ein mit den Esten verwandtes ostseefinnnisches Volk, das später weitgehend russifiziert wurde, Esten und Russen zusammen. Heute steht unmittelbar neben der  Burgruine zur Sicherung der Außengrenze Estlands, der Nato und der Europäischen Union das moderne Gebäude einer „Polizei-Präfektur“ mit mächtigen Antennen und einem größeren Polizeiboot am Steg. Ein ähnliches Anwesen mit entsprechendem Boot ganz in der Nähe ist nicht besonders ausgewiesen. Außerdem existiert in Vasknarva noch ein orthodoxes Nonnenkloster aus dem 19. Jahrhundert.

Die heute einigen hundert meist russischen Einwohner des langgestreckten Straßendorfs am Ufer von Peipus und Narowa beschäftigen sich mit Fischerei und Forstwirtschaft. Der Tourismus scheint hier noch keine besondere Rolle zu spielen. Allerdings verstecken sich in den Wäldern am Nordrand des Peipussees zahlreiche private Sommerhäuser („Datscha“), die wohl in erster Linie der Erholung der Großstädter aus der Hauptstadt Tallinn/Reval dienen. Obwohl Vasknarva heute die Grenze zwischen den modernen „Großmächten“ Brüsseler und Moskauer Prägung markiert, liegt über der Landschaft eine fast grotesk wirkende Ruhe. Grenzverkehr über den zwei- oder dreihundert Meter breiten Abfluß Narowa findet nicht statt. So braucht man auch keine Kontrollbeamten. Nur wenige geschichtsbewußte Besucher der Idylle wissen, daß diese Ruhe nicht immer selbstverständlich war. Für Touristen, die Jagd und Wassersport lieben, gibt es jedenfalls manches zu entdecken. Das gilt auch für die Geschichte des Landes, die über Jahrhunderte weitgehend von Deutschen geprägt wurde.

Fotos: Die Hermannsfeste des Deutschen Ordens (l.) und die im Jahr 1492 vom russischen Zaren Ivan III. als Gegenstück erbaute Festung Ivangorod: Steinerne Zeugen einer untergegangenen Epoche; Rekonstruktion des Rathauses in Narwa: Historisches ist rar

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