© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/11 29. Juli / 05. August 2011

Der Steinzeitmensch
Literatur: Martin Mosebach zum Sechzigsten
Harald Harzheim

Er ist ein intellektueller Fremdling. Allein, daß er in einer Zeit, in der Politik, Wirtschaft, Gesellschaft all die klassischen Intellektuellenthemen bilden, einen Protestessay gegen die Reformierung des römischen Meßrituals schreibt. Einen Text, der direkt ins Zentrum seiner Weltsicht führt: Zwar weiß Martin Mosebach, daß Ich und Welt „nur“ aus biochemisch-physikalischen Wechselwirkungen bestehen. Allein, er glaubt nicht an solche Reduktion.

Etwas Archaisches in ihm spricht vom objektiven Vorhandensein der Dinge, und daß sie eine Seele haben. Ja, Mosebach ist Animist: „Ein Mongolenschamane sagte mir, daß ein Stein, der aus dem Boden gegraben werde, sich darüber jahrelang nicht beruhigen könne. Ich halte das für wahrscheinlich.“ Weshalb sich Martin Mosebach als „Steinzeitmensch“ bezeichnet. Selbst Worte erscheinen ihm lebendig. Wenn menschliches Handeln auf die spirituelle Welt Einfluß hat, Kontakt zu ihr möglich ist, dann findet er im Opfer seine tiefste Vollendung. Der katholische Meßritus habe Opferriten zahlloser Kulturen und Zeiten in sublimierter Form seit anderthalb Jahrtausenden bewahrt. Deshalb sein Protest gegen die Abschaffung des traditionellen Meßritus durch Papst Paul VI.

Mosebach zieht die Überforderung des Menschen durch Mysterien der leichten Verständlichkeit vor. Deshalb liegt die Titulierung als „Reaktionär“, von Feuilletonisten entweder verächtlich oder mit Spaß am Obskuren verwendet, maximal daneben: Der Autor möchte nirgendwohin zurück. Er will sich nur die Transzendenz nicht durch eine Kultur des Banalen verbauen lassen. Hier liegt seine Aktualität, unabhängig davon, ob man diese Transzendenz im römischen Meßritus findet oder nicht.

Freilich scheint es weltfremd, wenn er (in dem FAZ-Artikel „Wo das Herz der Städte schlägt“) den zeitgenössischen Museen die Welt antiker Schatzhäuser entgegenhält, die ihre Kunst den Göttern opferten. Das zeitgenössische Museum solle Werke ausstellen, daß jeder Besucher darin „sein Bild“ findet. Eins, das ihn so beeindruckt, daß er mindestens einmal im Jahr vorbeikommt. Eins, vor dem er am liebsten eine Blume niederlegen, opfern will …

Aber es ist nicht nur das Opfer, das die Alltagswelt durchbricht: In seinen Romanen „Die Türkin“ (2003) oder „Das Beben“ (2005) ist es eine schöne Geliebte, die den Protagonisten aus dem leeren Dasein reißt, ihn in exotische Welten, ins archaische Lykien oder nach Indien treibt. Auch Tiere, Pflanzen oder Gegenstände verweisen auf Transzendenz: Beginnt „Die Türkin“ mit einem Baum, der bereits im Juli laubt und den Ich-Erzähler das eigene Welken spüren läßt, so brechen in „Was davor geschah“ (2010) die Äste des (Lebens-)Baumes die Sonnenstrahlen, sorgen für ästhetische Lichtspiele in der Wohnung des Helden, verwandeln sie in eine Kapelle. Bald darauf bricht der Baum, und der Held fällt in den Abgrund des Banalen.

Wenn in Mosebachs Mythologie das Opfer – oder gar „Die Schönheit des Opfers“, wie Steffen Köhler seine Mosebach-Studie tituliert hat (JF 44/07) – eine zentrale Stellung als spiritueller Kanal einnimmt, ist die Assoziation zum Menschenopfer naheliegend. Tatsächlich spielt Mosebach in dem „Alida Valli“-Porträt (2008) mit der Kombination von „Opfer“ und „Geliebter“: Wie auch der Schriftsteller Bodo Kirchhoff, verfiel der am 31. Juli 1951 geborene Mosebach während der Pubertät der italienischen Filmschauspielerin Alida Valli (1921–2006). Sie war seine „erste Kinoliebe“. Mosebach sah sie in „Der dritte Mann“ (1949), erlebte sie als Prinzessin aus „Tausendundeiner Nacht“: „Ihre Augen waren gazellenhaft, ihre Stirn weiß und makellos wie der Vollmond.“

Vor allem das Haar! Seinetwegen schwärmt Mosebach von der Szene aus „Der Fall Paradine“ (1947), mit dem Hitchcock seinem Horror vor der Justiz ein finsteres Denkmal setzte: Im Mittelpunkt steht der Prozeß gegen die Mörderin Mrs. Paradine (Alida Valli), der mit einem Todesurteil endet. Mosebach gerät in ästhetische Verzückung: „Im Gefängnis löste die Wärterin den dicken Haarknoten der zum Tode Verurteilten, da fiel es köstlich schwer auf die schmalen Schultern hinab, denn das Haar sollte für die Guillotine abgeschnitten werden.“

Man zuckt zusammen bei dieser sadeschen Erotisierung der Tötungsmaschinerie, atmet aber auf, als der Autor im folgenden Satz bekennt, wie gerne er Alida Valli freigesprochen und mit ihr ans Ende der Welt geflohen wäre. Jedoch: Dieser finale Haar-Striptease kommt im Film gar nicht vor, zumindest nicht in diesem Kontext. Er findet zu Beginn, beim Eintreffen in der U-Haft, also noch vor dem Prozeß statt. Danach wäre er auch gar nicht nötig, denn Mrs. Paradine wird nicht guillotiniert, sondern gehängt. Das zeigt der Film aber nicht, man erfährt es nur aus dem Mund des eisigen Richters (Charles Laughton).

Ergo, der erotische Ritus um das „schöne Opfer“, der geopferten „Diva“ (dt.: Göttin) ist gefälschte Erinnerung, eine Erfindung von Mosebachs Unbewußtem. Aber eben keine, die wie George Batailles „Acephale“-Mythos nach Realisation verlangt.

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