© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/11 29. Juli / 05. August 2011

Lockerungsübungen
Von der Natur entfernt
Karl Heinzen

Die Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner, hat unter dem Domainnamen „Lebensmittelklarheit.de“ ein neues Internetportal freigeschaltet, das die Bevölkerung dazu einlädt, ihrem Unmut über die ihr im Handel zum Verzehr angebotenen Produkte freien Lauf zu lassen. Die Ernährungsindustrie geht davon aus, nun noch mehr als zuvor von „Verbraucherschützern“ an den Pranger gestellt zu werden. Ilse Aigner hingegen möchte das Portal als Beitrag zu einem „seriösen Dialog“ verstanden wissen.

Das eigentliche Kalkül der Ministerin liegt in einem demokratischen Gemeinwesen jedoch auf der Hand. Ihr Ressort eignet sich wie kein anderes dazu, den Bürgern immer wieder einmal den Eindruck zu vermitteln, die Politik stünde an ihrer Seite. Dabei kann es erforderlich sein, auch weit verbreiteten Ressentiments ein Ventil zu bieten.

In der Industrie- und Handelsnation Deutschland richtet sich der Argwohn der Bevölkerung insbesondere gegen die Unternehmen. Getragen wird er von gut verdienenden und gebildeten Schichten, die die Zusammenhänge zu überblicken glauben und sich in der Öffentlichkeit zu artikulieren wissen. Bleibt auch kaum ein Gewerbe von ihrer Kritik ausgenommen, konzentriert sich diese in jüngster Zeit auf Banken und Versicherungen, die Energiewirtschaft, die Rüstungsindustrie sowie die Nahrungsmittelbranche. Bei dieser tritt neben das Unbehagen über eine unethische Unternehmenspraxis auch die irrationale Vorstellung, den natürlichen Lebensgrundlagen entfremdet zu sein. Richtete sich der antizivilisatorische Affekt früher gegen industrielle Massenproduktion, Verstädterung und Umweltverschmutzung, so äußert er sich heute in der Angst, Schaden an einer nicht mehr artgerechten Ernährungsweise zu nehmen.

Diese Sorge ist jedoch unbegründet. Der Mensch darf heute eine Steigerung von Lebensdauer und Lebensqualität genießen, eben weil er sich von Natur entfernt hat. Aller kulinarischer Genuß basiert auf der artifiziellen Veränderung von Nahrungsgrundstoffen. Eine wachsende Weltbevölkerung wird ohne weitere Fortschritte in der industriellen Lebensmittelproduktion nicht zu verpflegen sein. Der Populismus, dem Ilse Aigner frönt, ist daher auch auf dem Gebiet der Ernährung rückwärtsgewandt und unverantwortlich.

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