© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/11 29. Juli / 05. August 2011

Friedrich Nietzsche und das Christentum
Der Über-Denker
Harald Seubert

Nietzsche ist längst eine Ikone geworden. Man beruft sich auf ihn, zustimmend, ablehnend. Seine Lebensspuren: Die Herkunft aus dem Pfarrhaus, unter Frauen aufgewachsen; der genialische junge Philologe, der mit seiner ersten Schrift den Komment der Wissenschaft durchbrach; der einsame Wanderer in Sils Maria, Genua, Portofino; der Zusammenbruch in Turin – bei keinem Denker von Rang sind Leben und Denken derart eng ineinander verwoben. Keiner aber wurde auch derart ungeschützt zum Stichwortgeber für Ideologien und Ideologeme wie gerade Nietzsche.

Und dies muß durchaus wundernehmen – war der Einsame und Vornehme, als den er sich stilisierte, der er aber auch war, doch in hohem Grad mißtrauisch gegen jede Eingemeindung in eine Partei. Der Mut des Menschen in der Partei komme daher, so sagt Nietzsche einmal, daß einer seine Haftung auf den vor oder hinter ihm Stehenden abschieben kann. Nietzsche hat den Hinter- und Nebensinn auch gegenüber sich selbst kultiviert. Wenn seine Gedanken am schönsten leuchteten, mißtraute er ihnen und gab ihnen den Abschied.

Er spricht vom „Perspektivismus“ und meint damit Aufrichtigkeit auch gegenüber den eigenen guten Intentionen und schönen Gefühlen. Sich von der Emanzipation zu emanzipieren, war eine andere Maxime. Ein Unglück der Nietzsche-Rezeption besteht darin, daß, nachdem die lauten Töne der Ideologen und Ideologiekritiker leiser geworden sind, aus Nietzsche ein Philosoph für Philologen und formalistische Semantiker gemacht wurde. Viele Nietzsche-Forscher sehen nur noch Nietzsche – und damit sehen sie ihn gar nicht. Die Sache hinter den Zeichen wurde verschüttet.

Verkannt wurde damit auch, daß Nietzsches Denken immer existentiell ist, voller Schmerz und Zerrissenheit. Er versagt sich die großen Synthesen der kathedralenartigen Systeme des deutschen Idealismus. Er lotet die Extreme aus: die „Leuchtschrift starker Gegenbegriffe“. Unredlich nennt er dies. Wie man mit dem Schmerz, den man nicht entschärfen, schon gar nicht wegleugnen kann, zu leben vermag, dies ist Nietzsches große Frage gewesen. In der griechischen Tragödie sah er eine Antwort gegeben. Sie war in seinem Sinn das Formprinzip Europas. Nachdem die Tröstungen der Religion ihre Überzeugungskraft verlieren, ist es die Kunst, die dieses Leben lebenswert macht. Ohne Kunst, insbesondere ohne Musik, wäre das Leben ein Irrtum.

Von jungen Jahren an ist Nietzsche mit entsetzlichen Schmerzen, Migräne und den Symptomen einer vermutlich latenten Syphilis geschlagen gewesen. Auch diese dissonante Begleitmusik seines Denkens muß man in seinen Sätzen mithören. Vor einer solchen Disposition ist Nietzsche einen großartigen Denkweg gegangen, über dessen Wegmarken er sich bewußt war. So spricht er in seiner Dichtung „Also sprach Zarathustra“ gleichnishaft von den „drei Verwandlungen des Geistes“. Zuerst ist der Geist Kamel. Da sammelt er und trägt eine große Überlieferungslast zusammen. Nur unter dieser Voraussetzung kann er dann zum Löwen werden: den Schatz zerreißen, zerstören. Töten muß er auf diese Weise auch – gerade, was er am meisten liebt.

Schließlich aber gewinnt der Geist eine unerhörte Seinsleichtigkeit. Er wird zum „spielenden Kind“: der Figur, die Heraklit mit Gott gleichsetzte. Vor dem Hintergrund dieser Schrittfolge gewinnen die großen Gedanken Nietzsches Gestalt. Sie sind kein System, wohl aber ist ihnen Strenge und Genauigkeit eigen. Man denkt an die „ewige Wiederkehr des Gleichen“. Diese erschreckende Einsicht formuliert Nietzsche zugleich als eine Forderung, die an die Stelle des Kantischen Kategorischen Imperativs treten soll: Bejahe das eigene Leben so, daß du wie ein Zuschauer „Da capo“ rufen kannst, obwohl es kein Schauspiel ist.

 Der „Übermensch“ Nietzsches ist nicht „Superman“; „blonde Bestie“ ist er nur im Sinne der Renaissance-Fürsten. Er ist die Selbstdeutung des Menschen, der über Ressentiment, den Geist der Rache, hinausgeht und der Wiederkehr des Gleichen standhält: in Tun und Leiden. Oder – um mit einem anderen Nietzsche-Topos zu sprechen – zum Übermenschen wird derjenige, der in die Liebe zum eigenen Schicksal (amor fati) einwilligt. In der berühmten zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ spricht Nietzsche von der monumentalischen Historie, der Geschichte des Denkwürdigen, des Höhenwegs der Geister. Sie nimmt sich aus wie ein Vorklang auf den „Übermenschen“. Die sammelnde antiquarische Historie setzt sie ebenso voraus wie die unterscheidend kritische.

Nietzsche wußte in seiner „Genealogie der Moral“, seiner ätzend scharfen Überprüfung der höchsten Ideale, daß er auch noch in der Abstoßung von den Lebens- und Denkformen der Weltweisen und Kleriker vergangener Zeiten abhing. Die bloße Unmittelbarkeit, der Regreß auf den edlen Wilden waren Nietzsches Sache nie. Das wirkmächtigste der Nietzscheschen Gedankenbilder ist der „Wille zur Macht“. Im Nationalsozialismus (Alfred Baeumler und Ernst Bertram) wurde daraus der „Hauptgedanke“ Nietzsches. Die ewige Wiederkehr hingegen wurde zu einer „Privatmythologie“ zurückgeführt.

Die Chimäre eines nachgelassenen Hauptwerks, die die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in die Welt setzte, trug das ihre dazu bei. Doch dies ist ein fatales Mißverständnis: Für Nietzsche selbst war der „Wille zur Macht“ das „letzte Faktum, zu dem wir hinunterkommen“; die ewige Wiederkehr hingegen war der tiefste, abgründigste Gedanke. Er eröffnet eine Transzendenz zu allem Wollen, die Nietzsche den „europäischen Buddhismus“ nennt und die darin besteht, nicht nur nichts zu wollen, sondern über die Struktur von Wille und Gegenwille hinauszugelangen.

Wille und Gegenwille, ohne Ziel, ohne einen letzten Grund, bestimmen aber alles Sein: Natur, Kunst, Politik. Diese Determiniertheit aufzuweisen ist Sinn des „Willens zur Macht“. Auch die Schwäche und das Ressentiment will Macht: indirekt, subkutan, schleichend. Zumeist spricht Nietzsche vom „Willen zur Macht“ beschreibend. Er deckt die Ranküne hinter den schönen Gedanken und Intentionen auf.

Nietzsches Denken fokussiert sich auf die Frage nach dem europäischen Nihilismus und dem Tod Gottes. Nietzsche ist dabei niemals als Herold eines neuen Paganismus aufgetreten, der Tod Gottes ist Diagnose, nicht Proklamation. Nietzsche legt sie dem „tollen Menschen“ in den Mund – und er spricht vom Gottesmord, der im Namen des Hedonismus, der Ideale des Liberalismus und Sozialismus, vollzogen worden sei. Es ist der Mensch „letzter Menschen“, fortschrittsgläubig und unfähig, ins Licht zu sehen, die sich nun fragen müßten, wie es ihnen möglich gewesen sei, Gott zu töten.

Der Tod Gottes und die Erfahrung einer sinn- und ziellosen Welt sind seit dem frühen 19. Jahrhundert ineinandergespiegelt worden. Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“, aber auch Heinrich Heine markieren frühere Ankerpunkte dieses Topos. Nietzsche hat dabei auch angemerkt, daß der Tod Gottes eine Täuschung sei. Was für den Tod gehalten werde, sei tatsächlich eine „Häutung“. Nietzsche ist gerade durch diese Auffassungen bis in das Herz der Geschichte des Christentums in der Moderne und namentlich des Protestantismus vorgedrungen: Ethisierung und Moralisierung haben den Glauben in der Moderne aufgehen lassen. Nietzsche spricht deshalb zutreffend von der „Euthanasie des Christentums“.

Eben dieser Gedanke zieht aber eine andere Frage nach sich: Führt nicht die Entäußerung (Kenose) in das Zentrum des christlichen Glaubens? Er will sich nicht vor der Welt erhalten, im Glanz. Er geht in diese Welt ein, nicht in die Religion. Das „Totalexperiment christlichen Glaubens“ (Erich Heintel) hat Dietrich Bonhoeffer in dem Sinn bestimmt, daß man in der Welt vor Gott lebe, als ob es Gott nicht gebe (etsi deus non daretur). Ob und wie man in der säkularen Welt Christ sein könne, entscheidet sich nicht zuletzt im Gegenüber zu Nietzsche. Deshalb ist er gerade von dezidiert christlichen Denkern wie Günter Rohrmoser hoch geschätzt worden.

Nietzsches Überlegung ist die Konsequenz einer Theologie des Kreuzes, die so radikal sonst nur Søren Kierkegaard erkannt hat. Jesus Christus ist nicht ein herausgehobener Lehrer der Menschheit wie Sokrates. Er ist als Person die Lehre selbst: im Sinn des Paradoxons, daß der ewige Gott in die Kontingenz der Geschichte eintritt und Mensch wird.

Der homo religiosus Kierkegaard und der vermeintliche „Antichrist“ Friedrich Nietzsche, der eben damit die Essenz des Christlichen zutage gebracht hat, unterscheiden sich gleichermaßen von einer dogmatischen christlichen Überlieferung als auch von der aufklärerischen Form einer Religion der reinen Vernunft, in der letztlich die humane Essenz aller Religionen festgehalten wäre. Was Nietzsche unter „christlicher Praktik“ versteht, ist das Selbstopfer, eine Liebe, die sich in Freiheit preisgibt. Slavoj Zižek sieht darin die vielleicht letzte Widerstandsmacht gegen eine globalisierte Konkurrenzwelt. Wer Christus nachfolgt, gleicht damit in mancherlei Hinsicht auch dem „Idioten“ Fjodor Dostojewskis, von dessen Radikalisierung christlichen Glaubens Nietzsche später fasziniert war. Die Nachfolge müsse an jedem Ort und zu jeder Zeit möglich sein.

Die Gegenwärtigkeit Nietzsches besteht heute wohl nicht so sehr in bestimmten Auffassungen und Lehrpositionen. Sie besteht in der Radikalität eines Denkens, das immer auch gegen sich selbst dachte, das höchste Radikalität, die Sprengkraft des Dynamit, mit jener Redlichkeit der Hintergedanken verband. Langsam solle man lesen, den Sätzen ihren Resonanzraum geben, hat Nietzsche betont und die fehlende Musikalität der Moderne, die oftmals nur das Schlagwort hören möchte, einer scharfsichtigen Kritik unterzogen.

Seine Skepsis gegenüber den schönen Idealen, seine Forderung nach einer Veränderung der Askese im Sinn einer „Treue zur Erde“ war immer auch eine zweite Aufklärung, die die Gebrochenheit des Emanzipationszwangs wahrnimmt. Der großen Synthesen, wie sie der Hegelschen Philosophie eigen waren, versagte sich Nietzsche; die Gegensätze auszuloten und auszuhalten war ihm genug. Dadurch lotet er die Extreme aus, ohne sich an sie zu verlieren. Nietzsches Denken ist nie mit billiger Gewißheit verbunden. Auch wo es laut ist, polemisch, sich selbst überschreiend, fragt es weiter und schneidet ins eigene Fleisch: Auch Nietzsche weiß, daß er die eigene Frage als Gestalt ist.

Dies ist mit billiger postmoderner Relativität ganz und gar nicht zu verwechseln. Mit Nietzsche und gegen ihn zu denken, heißt immer auch in den Abgrund der Moderne zu blicken. Und kaum irgendwo zeigt sich dies so schlagend wie in Nietzsches Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben. Wenn Nietzsche sich als „Antichrist“ ausrief, stellte er sich selbst in die Geschichte des Christentums. Es ist wohl nicht zu viel erwartet, wenn man prognostiziert, daß Nietzsche das Religionsgespräch, um das es heute auch realpolitisch geht, in eine Tiefe führt, die die schnittigen Thesen, wie sie allgemein in Umlauf sind, vermissen lassen. Der Feinhörige ist nach einem Wort Rilkes „allem Abschied voran“, allen Deutungen und Mißdeutungen seines strittigen Denkens.

 

Prof. Dr. Harald Seubert, Jahrgang 1967, ist Ordinarius für Kulturphilosophie und Ideengeschichte an der Universität Posen. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über deutsch-polnische Geschichte („Die Gegenwart des Vergangenen“, JF 17/10).

Foto: Popart-Philosoph: Friedrich Nietzsche (1844–1900) gilt bis heute als Personifikation der philosophischen Moderne: nihilistisch, sarkastisch, aphoristisch

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