© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

Hauptsache raus!
Der 13. August 1961: Die Geschichte der Mauer ist auch die Geschichte ihrer Überwindung
Christian Dorn

Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 war der verzweifelte Versuch des SED-Regimes, dem nichtabreißenden Exodus aus der DDR einen Riegel vorzuschieben. Bis dahin waren insgesamt 2,7 Millionen Deutsche nach Westen geflüchtet, seit der Abriegelung der innerdeutschen Demarkationslinie 1952 vor allem über das „Schlupfloch“ West-Berlin. 

Doch auch danach blieb der Drang nach Freiheit ungebrochen, wenn auch mit einem hohen Risiko verbunden: Von den rund 370.000 Menschen, die nach dem Mauerbau den Versuch wagten, die DDR zu verlassen, wurden mehr als 72.000 inhaftiert. Sie sind die größte Gruppe der Maueropfer. Nicht zu vergessen sind daneben jene Westdeutschen, die mit selbstlosem Einsatz versuchten, DDR-Flüchtlinge in den Westen zu holen. Nicht selten mußte dafür ein hoher Preis bezahlt werden.

Beispielsweise von Matthias Bath, heute Staatsanwalt in Berlin. Der damals 20jährige Student hatte im Jahr 1976 auf Bitte eines hochrangigen Funktionärs der Jungen Union zugesagt, drei ihm unbekannte Menschen in einem präparierten Kofferraum in den Westen zu bringen. Bath heute gegenüber dieser Zeitung: „Ich wollte etwas gegen diesen Zustand der nationalen Trennung tun.“ Für dieses hehre Motiv verurteilten ihn die DDR-Behörden, nachdem die Flucht am Grenzkontrollpunkt entdeckt worden war, zu fünf Jahren Haft. Als erster Fluchthelfer Deutschlands schrieb er über seine Geschichte ein Buch: „Gefangen und freigetauscht. 1197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft“ (JF 35/07).

Im öffentlichen Bewußtsein sind diese Schicksale des Opfergangs für die Freiheit und nationale Einheit dennoch bis heute kaum. Eher erinnert sich die Öffentlichkeit an die spektakulären Fluchten über die innerdeutsche Grenze. Doch auch hier – wie auch in vielen anderen Beispielen, etwa beim Diskuswerfer Wolfgang Schmidt – scheint es, als wären in Amerika das Bewußtstein und die Anerkennung für den unbedingten Freiheitswillen ungleich stärker ausgeprägt als in Deutschland selbst. Dies zeigt sich auch beim legendären Tunnelbauer und Fluchthelfer der ersten Stunde, Hasso Herschel, der dieser Tage nach Amerika eingeladen ist. Erst als die „Charta 77“ der tschechischen Bürgerrechtsbewegung erschien, beendete Herschel seinen Einsatz. Bis dahin hatte er an die tausend Menschen in die Freiheit verholfen. Doch der erfolgreichste Fluchthelfer des geteilten Deutschlands bleibt bescheiden. Angesprochen auf seine Heldentaten winkt er rasch ab.

Wie für Herschel von Anfang an klar war, daß er „in diesem Käfig nicht leben will“, war es auch den Familien Strelzyk und Wetzel bald bewußt, daß sie es in der DDR nicht länger aushalten würden. Am 16. September 1979 flohen sie mit einem selbstgenähten Heißluftballon von Thüringen nach Bayern. Auch ihre Geschichte wurde erst durch Hollywood auf die ihr gebührende Größe gebracht („Mit dem Wind nach Westen“, 1981).

Den minutiösen Ablauf der geradezu unglaublichen Konstruktionsleistung und Fluchtplanung schildert Günter Wetzel im Internet. Als maßgeblicher Konstrukteur des Unternehmens erklärt er gegenüber der JUNGEN FREIHEIT noch einmal die Motivation für das damalige Wagnis: „Man kann die Entscheidung zu diesem Schritt nicht an einem Ereignis festmachen“. Entscheidend seien aber die eingeschränkte Meinungs- und Reisefreiheit und berufliche Einschränkungen gewesen, aber „natürlich auch wirtschaftliche Interessen“. Warum dann die Flucht auf dem Luftweg, im Ballon? „Über Minenfelder geht’s nicht mit Kindern.“ Dabei sei ihnen das Risiko „damals nicht wirklich bewußt“ gewesen.

 „Da der Wille, die DDR zu verlassen, sehr groß war, haben wir ganz einfach daran geglaubt, daß alles gut geht.“ Heute ist er sich bewußt, daß sie damals ungemein „viel Glück hatten“.

Solches verbindet auch die Fluchtgeschichten der drei Brüder Ingo, Egbert und Holger Bethke. Nachdem der älteste von ihnen, Ingo Bethke, im Mai 1975 mit einer Luftmatratze über die Elbe in den Westen gelangt war („Ich habe mir gesagt, mit diesem Staat willst du nichts mehr zu tun haben!“), folgte der jüngste Bruder Holger am 31. März 1983: Vom Dach eines Hauses in der Bouchéstraße im Ost-Berliner Stadtbezirk Treptow schoß dieser mit Pfeil und Bogen eine Angelsehne auf das Dachgeschoß des gegenüberliegendes Hauses in West-Berlin, an deren Ende ein Stahlseil geknüpft war. An diesem hangelte sich Holger Bethke zusammen mit einem Freund hinüber in den Westen.

Als die West-Berliner Polizei das Seil zusammengerollt hatte, erinnert sich Bethke gegenüber der JF, warfen die Beamten den Ballen über die Mauer zurück in den Osten und riefen den Grenzern ironisch zu: „Ey, ihr Penner, könnt ihr denn nicht aufpassen, hier hauen alle eure Leute ab!“ Zusammen holten die beiden ihren Bruder Egbert am 26. Mai 1989 mit zwei Leichtflugzeugen vom sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow ab. Da sie sowjetische Hoheitszeichen an ihrem Heck hatten, waren sie zunächst geschützt – und landeten wie geplant auf der Wiese vor dem Reichstag. Dort ließen sie die Fluggeräte herrenlos zurück: „Wir hatten ja auch Angst vor den Alliierten“, so der einstige Flüchtling Egbert Bethke. Während Öffentlichkeit und Behörden rätselten, wem die Flugzeuge gehörten, genossen die Brüder ihre neugewonnene Freiheit auf dem Ku’damm. Bethke erinnert sich noch heute an „die plötzliche Freiheit, selbst entscheiden zu können“.

Hätte die Geschichte anders entschieden, wären die Brüder wohl von der Bildfläche verschwunden: Die Stasi wollte die drei noch im Januar 1990 in die DDR entführen.

Foto: Gedenkkreuz für den 1962 erschossenen Flüchtling Peter Fechter (links); Mauer und Touristen auf einer Besucherplattform auf der Westseite Berlins: Der Drang in die Freiheit ließ sich nicht unterdrücken

 

Eine Chronik

26. Mai 1952: Die DDR sperrt die Demarkationslinien zur Bundesrepublik und zu West-Berlin. Zwangsumsiedlung von Bewohnern des östlichen Zonengrenzraums, Errichtung einer fünf Kilometer breiten Sperrzone sowie eines zehn Kilometer breiten Kontrollstreifens.

Dezember 1957: Einführung des Straftatbestands „Republikflucht“.

ab 1960: Verlegung von Stockminen an der innerdeutschen Grenze durch die DDR; in diesem Jahr flüchten 199.188 Bewohner der DDR in den Westen.

25. Juli 1961: US-Präsident John F. Kennedy betont in einer Fernsehansprache, daß West-Berlin zu halten sei. Die in den „drei Essentials“ proklamierte Freizügigkeit bezieht sich jedoch nur auf den West- und nicht den Ostteil der Stadt.

Nacht vom 12. auf den 13. August: SED-Chef Walter Ulbricht gibt als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR mit Rückendeckung der Sowjets den Befehl, die Sektorengrenze in Berlin abzuriegeln. US-Präsident Kennedy läßt erklären, das Vorgehen der DDR richte sich offensichtlich „nicht gegen die Position der Alliierten in West-Berlin oder den Zugang nach West-Berlin“. Dann geht er segeln.

Willy Brandt (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, „erhebt vor aller Welt Anklage gegen die widerrechtlichen und unmenschlichen Maßnahmen der Spalter Deutschlands. (...) Die Abriegelung der Zone und des Sowjetsektors von West-Berlin bedeutet, daß mitten durch Berlin die Sperrwand eines Konzentrationslagers gezogen wird.“ Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) mahnt zur Besonnenheit; erst neun Tage später fliegt er von Bonn in die Hauptstadt, wo ihm die Berliner einen frostigen Empfang bereiten.

17./18. August: Bauarbeiter beginnen, den Stacheldraht durch eine Mauer zu ersetzen.

22. August: Beim Versuch, durch einen Sprung aus dem 3. Stock ihres Hauses in der Ber-nauer Straße nach West-Berlin zu fliehen, verunglückt die 58jährige Ida Siekmann tödlich.

24. August: Der 24 Jahre alte Schneider Günter Litfin wird von DDR-Grenzern beim Fluchtversuch an der Mauer erschossen.

Juni 1962: Eine weitere Mauer auf östlicher Seite wird errichtet. Ein Jahr später wird das Ost-Berliner Grenz- zum Sperrgebiet.

 

Die Opfer der „Sperrwand eines Konzentrationslagers“

Auf einer Gesamtlänge von 155 Kilometern stand der „Ring um West-Berlin“, bestehend aus einer Betonplattenwand mit Rohauflage, Metallgitterzaun, elektrischem Signalzaun und Sperrgräben. Hinzu kamen noch Beobachtungstürme, Bunker und Hundelaufanlagen; dazu die Angehörigen der Grenztruppe, die jeden Fluchtversuch mit Waffengewalt zu unterbinden hatten.

Doch auch dieser Aufwand bot keine perfekte Abschreckung: Immerhin 5.075mal gelang (zwischen 1962 und 1988) die Flucht nach West-Berlin. Dem stehen jedoch zahlreiche gescheiterte  Versuche gegenüber, die mit der Inhaftierung oder gar dem Tod des Flüchtlings endeten.

Die exakte Zahl der Todesopfer an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze steht auch über zwanzig Jahre nach der Einheit noch nicht genau fest.  Mindestens 136 Menschen sind einer Untersuchung des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam zufolge nachweislich an der Berliner Mauer erschossen worden, verunglückt oder nahmen sich angesichts ihres gescheiterten Fluchtversuchs das Leben.

Dazu gehören 98 Flüchtlinge, die beim Versuch, die Grenzanlagen zu überwinden, erschossen wurden, verunglückten oder sich das Leben nahmen; 30 Menschen ohne Fluchtabsichten, die erschossen wurden oder verunglückten, sowie acht DDR-Grenzer, die im Dienst durch Fahnenflüchtige, Kameraden, einen Flüchtling, einen Fluchthelfer oder einen West-Berliner Polizisten getötet wurden. Mindestens 251 meist ältere Reisende starben vor, während oder nach der Kontrolle an einem Berliner Grenzübergang, vornehmlich an den Folgen eines Herzinfarktes.

Die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter kam auf 274 Todesopfer, davon 114 in Berlin; laut der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität gab es sogar 421 Tote, davon 152 an der Mauer.  Von einer noch höheren Opferzahl geht das Mauermuseum „Haus am Checkpoint Charlie“ aus, das seine auf eigenen Recherchen beruhenden Ergebnisse jährlich aktualisiert.

Am Dienstag wurden neue Zahlen vorgestellt: Demnach starben an der Mauer beziehungsweise der Grenze zu West-Berlin insgesamt 528 Personen. An der innerdeutschen Grenze kamen 671 Menschen ums Leben, 187 starben bei der Flucht in der Ostsee. 80 DDR-Flüchtlinge kamen beim Versuch, über mittel- oder osteuropäische Nachbarstaaten in den Westen zu gelangen, ums Leben. In insgesamt 14 Fällen seien Menschen nach ihrer erfolgreichen Flucht noch getötet worden. Das private Museum kommt auf eine Gesamtzahl von 1.613 Todesopfern.

Am 5. Februar 1989 wurden an der Mauer die letzten tödlichen Schüsse auf einen Flüchtling, den 20jährigen Chris Gueffroy, abgegeben.

 www.berliner-mauer-gedenkstaette.de

 www.mauermuseum.de

 www.ballonflucht.de

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