© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

„Der Anfang vom Ende“
Günter Schabowski war einer der Köpfe der SED und galt als möglicher Nachfolger Erich Honeckers – dann verkündete er am 9. November 1989 die Öff nung der Mauer
Moritz Schwarz

Herr Schabowski, was war die Mauer?

Schabowski: Damals am 13. August 1961: der Versuch der Sowjetunion und der Linken zur Selbstrettung der DDR. So wurde das jedenfalls empfunden, auch von mir – ich war ja, wie Sie wissen, zu der Zeit noch ein gläubiger Kommunist.

Und heute?

Schabowski: Aus der Rückschau: ein Schnitt durch Deutschland, eine Nachwehe der Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Und der Anfang vom Ende.

Warum?

Schabowski: Wenn ein Staat glaubt, aus Gründen der Selbsterhaltung Menschen erschießen zu müssen, dann hat er sein Daseinsrecht verwirkt. 

Dann wäre die DDR nicht erst mit dem Ende der Mauer gescheitert, sondern schon mit deren Bau?

Schabowski: Im Grunde, ja.

Aus heutiger Sicht scheint es fast unverständlich, daß den DDR-Eliten, zu denen Sie ja gehört haben, dieser Gedanke zu ihrer Zeit nie gekommen ist.

Schabowski: Tja, wir ließen uns blenden: Daß sie den Bau der Mauer gegen alle Widerstände durchzusetzen vermochte, zeigte zunächst ja, daß die DDR damals in der Tat jene politische Macht war, die sie behauptete zu sein. Und moralisch: Wir beanspruchten das bessere Deutschland, das bessere System, die fortschrittliche Linke und damit die Zukunft der Menschheit zu sein. Und deshalb schien es uns auch erlaubt, diese Grenze zu ziehen.

Sie sind 1997 wegen Mitschuld an den Toten der Mauer verurteilt worden.

Schabowski: Ja, und ich sehe auch ein, daß man mich verurteilt hat, auch wenn ich nicht zu den Leuten gehört habe, die auf Menschen geschossen oder dieses befohlen haben.

Worin besteht dann nach Ihrer Ansicht Ihre Mitschuld?

Schabowski: Darin, daß ich als ein politisch Verantwortlicher in der DDR zu jenen gehört habe, die es duldeten, daß Menschen – die ja keine Kriminellen waren, sondern nur das System hinter sich lassen wollten – dort erschossen wurden.

Der ebenfalls verurteilte Egon Krenz ging in Revision, Sie nicht. Warum?

Schabowski: Eben weil ich die Tatsache meiner Verstrickung akzeptiert habe.

Besuchen Sie heute zuweilen die Gedenkstätten für die Toten der Mauer?

Schabowski: Nun, ich kann ja nach meinem letzten Schlaganfall 2010 nicht mehr so gut gehen ... aber nein, doch auch sonst eher nicht. Ich finde solches Gedenken natürlich völlig angebracht, aber doch für die Angehörigen der Opfer, die dort trauern.

Da Sie eine Mitverantwortung für die Mauer einräumen – müßten Sie sich dann nicht auch dort sehen lassen?

Schabowski: Ich meine, eine Gedenkstätte ist eine vornehme, eine heilige Stätte für die Opfer und deren Angehörige. Das ist nicht der Ort, wo die Täter sich moralische Absolution holen.

Oder scheuen Sie möglicherweise die Konfrontation mit dem Gedenken?  

Schabowski: Also, ich bin trotz allem ja kein unmittelbarer Täter. Wissen Sie, ich habe in meiner SED-Zeit gar nicht geahnt, daß ich mit der Mauer etwas zu tun habe. Das wurde 1997 in meinem Prozeß auch berücksichtigt, und ich wurde dann ja auch „nur“ zu drei Jahren verurteilt.

Sie waren immerhin Mitglied des Politbüros, zuvor Chefredakteur des „Neuen Deutschland“.

Schabowski: Ja, das ist richtig, aber ich habe zum Beispiel nach meiner Erinnerung im Neuen Deutschland nie ein Wort über die Mauer geschrieben. Nein, meine Verantwortung liegt vielmehr darin, daß die Mauer ein Bestandteil meiner politischen Existenz war. Ich war Vertreter eines Systems, das nur existieren konnte, solange diese Repression aufrechterhalten wurde. Denn ohne Mauer, keine DDR – das ist doch klar!

Also waren es doch auch Ihre Opfer?

Schabowski: Ja, aber die meisten Angehörigen, so habe ich es zumindest erlebt, arbeiten sich weniger an dem ollen Schabowski ab. Im Gegenteil, viele von denen sagen: „Immerhin, einer dieser Drecksäcke hat für sich ein Stück Verantwortung übernommen.“ Wissen Sie, für mich war nicht das Gedenken das Entscheidende, sondern die Fähigkeit und die Bereitschaft, einzusehen, daß man etwas falsch gemacht hat, daß man folglich das System lockerte und so ein anderes System ermöglichte, das eine Mauer nicht nötig hat und wo solche Sauereien, wie sie an der Mauer passiert sind, nicht mehr geschehen. 

Gut, aber verstecken Sie Ihre persönliche Verantwortung nicht vielleicht hinter der Formel von der „politischen Verantwortung“?

Schabowski: Warum fragen Sie denn nicht mal zum Beispiel den Egon Krenz, der hat doch bis heute nicht kapiert, daß es vorbei ist. Seit über zwanzig Jahren werden mir nun immer und immer wieder diese Fragen gestellt. Ich muß Ihnen ehrlich sagen, manchmal kommt mir da der Kaffee hoch. Ich sage: Stellen Sie, die Journalisten, diese Fragen doch bitte auch mal den anderen, stellen Sie sie nicht immer mir, stellen Sie sie denen, die damit wirklich direkt zu tun hatten! Wo sind denn die, die bis heute nichts dazu sagen, die sich nicht im geringsten damit auseinandergesetzt haben? Bei denen gelte ich doch als Verräter, weil ich überhaupt Schuld eingestanden habe. Deshalb habe ich natürlich die Schnauze voll, wenn ich unentwegt mit diesen Typen in eine Reihe gestellt werde. Verstehen Sie das? Das ist der Grund, warum ich so reagiere.

Wie sehr trifft es Sie, daß Sie als „Verräter“, „Ratte“ oder „Weichling“ von Ihren ehemaligen Genossen beschimpft werden?

Schabowski: Wenn ich mit so was direkt zu tun habe, bringt mich das zwar auf die Palme, aber mein Redeschwall reicht aus, um diesen Typen zu begegnen und ihnen klarzumachen, was für Knallköppe sie sind und wie begrenzt ihre Unfähigkeit ist, einzugestehen, daß wir uns damals geirrt haben, daß wir einfach falsch lagen.

Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten damals „gar nicht geahnt, daß ich mit der Mauer etwas zu tun habe“. Das klingt heute unverständlich, immerhin waren Sie zeitweise als Nachfolger Erich Honeckers für die Position des Staatsratsvorsitzenden und Generalsekretärs im Gespräch. Also, was meinen Sie damit?

Schabowski: Wie gesagt, die Mauer war Teil dieses Systems, ja. Aber ganz ehrlich, damals habe ich gar nicht an die Mauer gedacht: „Was habe ich schon mit der Mauer zu tun?“ Dann kam der Herbst 1989, und ich war in den Sturz dieses Systems unmittelbar involviert. Damit wähnte ich mich progressiv. Auch wenn ich noch ein gläubiger Kommunist war – aber ich hatte das System mitverändert! Wir sahen uns damals wie Gorbatschow in der KPdSU. 1997 kam dann der Prozeß gegen mich. Und erst da, glauben Sie mir, erst da hat in mir die Auseinandersetzung mit meiner Mitverantwortung auch für die Mauer angefangen. Plötzlich wurde das so zugespitzt, und dann ist es langsam in mir hochgekommen.

Was?

Schabowski: Na, die Erkenntnis, daß wir nicht nur Fehler gemacht haben, sondern daß das System grundlegend falsch war. Ich meine, wir sind doch damals, als junge Menschen, nicht bloß aus einem Gefühl heraus Kommunisten gewesen, sondern weil wir glaubten, verstehen Sie, zutiefst glaubten, der Sozialismus und die DDR seien richtig, historisch richtig, und die andere, die bürgerliche Gesellschaft sei grundverkehrt, weil sie die Logik marxistischen Denkens nicht begriffen hatte. Wir dagegen hatten begriffen! Nun gut, wir hatten an unserer Staatsgrenze diese Mauer, sicher, da stimmt was nicht, im Detail, aber das war nicht das Entscheidende. Das Entscheidende war, daß wir das richtige Prinzip hatten. Damit habe ich bis heute zu tun, das ist eine Grundfrage meiner Auseinandersetzung mit meiner Geschichte und mit dem weltanschaulichen System, das ich damals vertreten habe: Daß wir glaubten, objektiv recht zu haben – und in Wahrheit war alles genauso falsch wie jedes beliebige bürgerliche Prinzip, dem wir uns damals ach so überlegen fühlten.

Warum sind Sie bis heute einer der wenigen Verantwortlichen geblieben, die das einräumen?

Schabowski: Weil die übrigen bis heute Marxisten sind. Verstehen Sie doch, was das bedeutet. Diese Leute wähnen sich immer noch im Besitz der Wahrheit. Die sagen sich: „Wir haben recht und deshalb: Wenn da Leute totgeschossen worden sind, dann ist das möglicherweise bedauerlich, ändert aber nichts an der Richtigkeit unseres Prinzips!“ Die sind vergleichbar mit fundamentalistischen Eiferern. Für die ist das nur konsequent. Sie sind bis heute verhaftet in diesem Kinderglauben: „Wir bauen eine neue, eine bessere Welt!“ Der Kern der Sache ist doch nicht, daß wir fiese Typen waren, auch nicht, daß es in der DDR Unrecht gab, das gibt es heute auch, nein: Wir waren gefährlich, weil wir einem Prinzip gehuldigt haben und zwar absolut, und eine ganze Gesellschaft da hinein zwingen wollten! Deshalb war für mich persönlich das Entscheidende, zu dem Punkt zu kommen, an dem ich begriff und öffentlich sagte: „Schluß damit! Und ich bekenne mich schuldig, wo ich daran Anteil hatte!“ – Also als politisch Beteiligter, meine ich.

Wer hat heute recht?

Schabowski: Gute Frage – wer hat recht? Links, Mitte, rechts? Heute denke ich, daß das alles Kokolores ist: Wenn eine Gruppe für sich in Anspruch nimmt, sich nicht an die Spielregeln halten zu müssen, weil sie die Spielregeln, also das System, angeblich verkörpert und folglich politisch repressiv, ja vielleicht sogar gewaltsam gegen jene vorgeht, die anderer Meinung sind, dann spielt es keine Rolle, ob das Linke, Rechte oder sonst ewas sind, dann hat diese Gruppe ihr moralisches Recht verwirkt. Früher gehörte ich selbst zu den Figuren, die so gedacht haben, inzwischen aber habe ich begriffen, daß es nichts weiter als ein Ausdruck geistiger, menschlicher Begrenztheit ist, sich solche Systeme auszudenken, die die Freiheit einteilen in links und rechts und sonst etwas und dann daraus Vorrechte des einen gegenüber dem anderen ableiten.

Das heißt, heute, in der Zeit des „Kampfs gegen Rechts“, gesteht ausgerechnet ein ehemaliger Kommunist wie Sie auch der Rechten eine Existenzberechtigung zu? 

Schabowski: Demokratie ist stets veränderbar, nach der einen wie nach der anderen Richtung. Daraus folgt, es gibt kein absolutes, kein an sich „besseres“ System. Die Meinungsfreiheit in der Demokratie muß offen sein, nach links wie nach rechts, selbst dann, wenn sich rechte Politik durchsetzt. Das alles gehört eben zur Wandelbarkeit der Demokratie. Früher war für mich die Frage: Bin ich Linker oder Rechter? Heute bin ich für die Offenheit der Systeme, ich bin für die Demokratie an sich, für das Verwerfen, die stetige Chance zur Erneuerung. Deshalb bin ich auch dagegen, Demokratie an sich heiligzusprechen, sie quasi „anzubeten“. Herrschaftsformen müssen offen sein, denn wenn nicht, wird Mist daraus. Ich bin also über links, rechts, Mitte, über all das im Grunde hinaus. Selbst die extremen Ausformungen von der äußersten Linken bis hin zur äußersten Rechten müssen in der Demokratie möglich sein. Schluß gemacht werden muß beziehungsweise darf immer erst kurz vor dem Umschlagen in die absolutistische Spielart. Geschieht das schon früher, ist das vielleicht bereits selbst schon absolutistisch. Deshalb muß jeder stets seine eigene Haltung überprüfen und notfalls Stellung beziehen. Es stimmt, Demokratie lebt von der Courage, vom dagegen Aufstehen, notfalls sogar sich dafür zusammenkloppen zu lassen.  

Sind Sie heute froh, daß Sie der Mann waren, der die Mauer geöffnet hat?

Schabowski: Na ja, froh wäre ich, wenn ich etwas mehr Rente bekäme ... aber Spaß beiseite, natürlich bin ich grundsätzlich froh, daß ich der „Maueröffner“ gewesen bin. Daß ich mit einer politischen Entartung Schluß gemacht habe, bei der Leute, die nur wegwollten, einfach abgeknallt wurden. Ich habe keinen Vorteil davon, heute bin ich ein armseliger Rentner wie viele andere. Aber wenn ich etwa im Park spazierengehe, dann erkennen mich immer wieder Leute: „Mensch, Herr Schabowski, Sie haben doch damals die Mauer aufgemacht!“ und dann freuen sie sich. Die sind froh, auch wenn es ihnen heute selbst nicht gutgeht, daß sie etwa nach West-Berlin gehen können und die Mauer los sind.

Ihre Kritiker sagen, Schabowski war Hitlerjunge, dann Kommunist, heute Antikommunist – Schabowski hat immer mitgemacht.

Schabowski: Es ist doch Unsinn, mir die Hitlerjugend vorzuwerfen, als Kind waren doch alle in der HJ. Was den Antikommunisten angeht: Das bin ich heute, eben weil ich das System genau kennengelernt habe! Ich bin nicht nur ein Schwärmer oder ein Theoretiker wie viele Kommunisten heute, sondern habe die Praxis erlebt. Im übrigen ist mir egal, was diese Leute mir vorwerfen, weil ich nicht mehr Vertreter eines Systems bin, für das ich mich rechtfertigen muß. Im Gegenteil, ich sage ja, jede Art von System-Denken ist ein Fehler.

Christa Wolf hat über Sie gesagt, Sie seien in der DDR „einer der Schlimmsten“ gewesen.

Schabowski: Ach, so ein Unsinn! Ich war ein strammer Kommunist, ja – aber es ist doch klar, daß diese Leute, die dem System anhängen, wie Christa Wolf, versuchen, Systemkritiker, wie ich inzwischen einer bin, zu verunglimpfen. Meinen Sie etwa, wenn ich mir ganz individuell gegen irgendwen wirklich etwas hätte zuschulden kommen lassen, ich wäre später so glimpflich vor Gericht davongekommen?

Sie sollen etwa 1988 für den Schulausschluß von Philip Wollenberger, den Sohn der Bürgerrechtlerin Vera Wollenberger, heute Vera Lengsfeld, votiert haben.

Schabowski: Unsinn! Ich bitte Sie, Sie glauben doch nicht, daß ein Joachim Gauck, der als Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde alle wichtigen Einblicke über Jahre hinweg hatte, die Laudatio zu meinem achtzigsten Geburtstag hält, wenn er wüßte, daß da eine gravierende persönliche Schuld vorliegt?

Sie waren 1989 der erste aus der DDR-Führungsriege, der Oppositionelle empfangen hat. Sie haben zudem als einer der wenigen gewagt, bei der Montagsdemonstration am 4. November 1989 auf dem Ostberliner Alexanderplatz sich der Menge zu stellen und ausbuhen zu lassen. Warum haben Sie das getan? 

Schabowski: Das wird Sie jetzt vielleicht überraschen: Weil ich die DDR retten wollte. Weil ich wirklich glaubte, das System ändern zu können. Das war die Zeit, nachdem wir, Egon Krenz, der Karl-Marx-Städter Parteisekretär Siegfried Lorenz und ich, Erich Honecker gestürzt hatten, und ich wollte, das sage ich Ihnen ganz offen, damals nicht den Kommunismus und die DDR beenden, sondern retten.

Am 9. November 1989 haben Sie dann die Maueröffnung in jener berühmten Pressekonferenz verkündet.

Schabowski: Ja, aber auch das nicht, um mit der Bundesrepublik zusammenzuarbeiten oder gar um die Wiedervereinigung herbeizuführen, sondern weil wir hofften, mit Reformen so wie in der Sowjetunion die DDR zu retten. Na ja, das war natürlich naiv.

Eines kann man den Kommunisten nicht absprechen, sie hatten stets einen ausgeprägten, durch historische Erfahrung geschulten Sinn für die Macht. Gerade in der SED hätte man also doch wissen müssen, daß ein System in dem Moment, wo es einen Schritt zurückweicht, unweigerlich stürzen wird.

Schabowski: Wir waren wohl zu sehr in dem Glauben, im Besitz der Macht zu sein. Wir dachten, wir haben über die Partei immer noch alles in der Hand, also können wir auch verändern. Und wenn wir nun die Knallköppe in der Partei matt setzen, dann könnten wir die Situation auch wieder stabilisieren. Das war eine Illusion, aber wir waren ja nicht die einzigen – in Moskau und anderswo machten sie sich ebenfalls falsche Vorstellungen. Doch irgendwann merkten wir: Tatsächlich war es uns schließlich schon entglitten.

Also haben im Grunde Sie die DDR abgeschafft, denn mit dem Tag, an dem die Mauer fiel, war es ja vorbei.

Schabowski: Das mag sein, ja. Mit der Maueröffnung hat unser Volk angefangen, uns zu verlassen.

Wenn Sie heute mit jungen Kommunisten sprechen, was sagen Sie denen?

Schabowski: Ich muß Sie enttäuschen, ich spreche nicht mit jungen Kommunisten. Jedenfalls kommen zu den Veranstaltungen, zu denen ich eingeladen werde, keine jungen Kommunisten, sondern in der Regel ältere Leute, die in der DDR gelebt haben.

Was würden Sie ihnen sagen, wenn Sie welche treffen würden?

Schabowski: Ich würde sie erstmal fragen, wie sie denn dazu gekommen sind, Kommunisten zu werden. Dann würde ich sie fragen, was sie von den Denkfehlern im kommunistischen System halten. Allerdings, soweit ich weiß, haben die meisten von denen kaum Ahnung von Marxismus. Ich glaube, das ist heute nicht mehr so wie früher, daß Marxist sein heißt, sich intensiv mit Lehren von Marx auseinandergesetzt zu haben.

Als in Berlin Klaus Wowereit 2002 mit der PDS die rot-rote Koalition eingegangen ist, haben Sie ihn gewarnt, das nicht zu tun. 

Schabowski: Weil viel zuviele der Linken in der Partei dem Marxismus nicht abgeschworen haben. 

Wenn sich die derzeitige Schwäche der Regierungskoalition im Bund fortsetzt, dann könnten wir 2013 eine grün-rot-rote Bundesregierung bekommen – also die Linke als Regierungspartei auf Bundesebene.

Schabowski: Das Problem ist, daß die Linke sich öffentlich vom Kommunismus distanziert, was aber nicht bedeutet, daß sie diesen wirklich aufgibt. Sie tut das vielmehr, um bei den Bürgern als wählbar zu gelten, ohne innerlich wirklich abzuschwören. Einmal an der Regierung, würden sie dann wohl versuchen, ihren marxistischen Prinzipien wieder stärker Geltung zu verschaffen. Das ist die Gefahr, die ich da sehe. Ich kann nur hoffen, daß dann genug Bürger, inklusive der Sozialdemokraten, aufstehen und dem Einhalt gebieten würden. 

Halten Sie die Linkspartei für gefährlich?

Schabowski: Ja, sicher. Sehen Sie, ich würde die Partei nicht verbieten, weil das dem Prinzip der Freiheit widerspricht, aber man muß verstehen, daß diese Partei einer Irrlehre anhängt und deshalb politisch gesehen keine Existenzberechtigung hat. Andererseits, die Demokratie gestattet auch dem Falschen, vorhanden zu sein. Ja, sie gestattet sogar dem ihr selbst, der Demokratie Widersprechenden die Existenz. Und das muß man, wie ich vorhin schon ausgeführt habe, respektieren. Allerdings muß sich in der Demokratie aber auch die Linke der Kritik und ihrer Geschichte stellen.

Vor einigen Wochen sorgte die sogenannte „Kommunismus-Debatte“ für Wirbel, welche die Linken-Chefin Gesine Lötzsch mit ihrem Aufsatz „Wege zum Kommunismus“ in der „Jungen Welt“ ausgelöst hatte.  

Schabowski: Ganz offensichtlich ist sich Frau Lötzsch der Absurdität allein schon einer solchen Überlegung in keiner Weise bewußt. Allerdings, das kann mich nicht wirklich überraschen. Also, im Klartext: Das ist doch alles Quatsch. Da schlägt ein vernünftiger Mensch doch die Zeitung zu und legt sie weg. Es ist schon bemerkenswert, daß es manche selbst nach dem konkreten Anschauungsunterricht, den uns die DDR erteilt hat, immer noch nicht begriffen haben. Der Kommunismus hat bekanntlich in allen erdenklichen Spielarten und in den verschiedensten Staaten der Welt versagt – aber Frau Lötzsch will es dennoch noch einmal probieren. Aber, wollen wir fair sein, sie hat sich Gedanken gemacht über das, was vom Kommunismus noch übrig ist, das kann sie natürlich tun. Und man muß sagen, dieser Virus ist, denke ich, heute nicht mehr wirklich ansteckend. Daher sollte man die ganze Sache auch nicht zu hoch hängen.   

Sie haben mal gesagt, daß Sie durchaus heute auch etwas Konservatives hätten. Was ist das Konservative an Ihnen?

Schabowski: Ich würde sagen, das ist meine historische Erfahrung. Ich bin deshalb noch kein Konservativer oder gar Rechter, bei weitem nicht. Ich sagte ja auch, daß ich über diese politischen Klassifizierungen hinaus bin. Aber ich habe heute, das stimmt wohl, etwas Konservatives in mir, und das ist meine Skepsis.

 

Günter Schabowski verkündete vorzeitig die Öffnung der Mauer, als er bei einer Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 auf die Frage, wann das neue DDR-Reisegesetz Geltung erlange, mit den berühmt gewordenen Worten antwortete: „Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Tatsächlich sollte das Gesetz erst vom nächsten Tag an gelten. Schabowski, geboren 1929 in Anklam (Vorpommern), war seit 1986 Mitglied des SED-Politbüros, des Führungsgremiums der Partei, und galt zeitweilig als möglicher Nachfolger Erich Honeckers. Zuvor war der Journalist bei der Gewerkschaftszeitung Tribüne und von 1978 bis 1985 Chefredakteur des Neuen Deutschland gewesen. Im Januar 1990 wurde er aus der SED ausgeschlossen. Nach der Wende arbeitete er erneut als Journalist und distanzierte sich von seiner Vergangenheit. 1991 legte er in den Büchern „Der Absturz“ und „Das Politbüro. Ende eines Mythos“ Rechenschaft ab. 2009 erschien bei Econ der Gesprächsband „Wir haben fast alles falsch gemacht. Die letzten Tage der DDR“.

Fotos: Berliner Mauer am Brandenburger Tor (1962): „Ich habe meine Verstrickung akzeptiert ... war Vertreter eines Systems, das nur existierte, wenn die Repression aufrechterhalten wurde. Die Mauer war Teil meiner politischen Existenz“ ; Fall der Mauer, Schabowski auf der berühmten Pressekonferenz am 9. November 1989 (oben): „Natürlich bin ich froh, daß ich der ’Maueröffner‘ bin. Daß ich mit einer politischen Entartung Schluß gemacht habe ... und solche Sauereien, wie sie an der Mauer passiert sind, nicht mehr geschehen“

 

weitere Interview-Partner der JF

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen