© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

Gegen Juden und Liberale
Henning Albrechts Dissertation über den sozialkonservativen Politiker und Publizisten Hermann Wagener, der ein Stichwortgeber des Antisemitismus war
Uwe Ulrich

Über ein Vierteljahrhundert hinweg begleitet Henning Albrecht in seiner Dissertation den Lebensweg Hermann Wageners (1815–1889) und setzt dessen politisches und publizistisches Wirken zwischen die Spannungspole Sozialkonservativismus und Antisemitismus. Als Chefredakteur der konservativen Kreuzzeitung, Herausgeber verschiedener publizistischer Kleinprojekte und des mehrbändigen „Staats- und Gesellschaftslexikons“ gab er seiner Zeit Meinungen vor. Zwischen 1848er Revolution und Reichsgründung spielte der preußische Landtags- und Reichstagsabgeordnete, zeitweilig ein Mitarbeiter Otto von Bismarcks und Vortragender Rat im preußischen Staatsministerium, eine bedeutende Rolle in der Innenpolitik. Selbst der Reichskanzler konnte ihn 1873 nicht im Amt halten, nachdem bekannt geworden war, daß Hermann Wagener in Spekulationsgeschäfte bei der Gründung der Pommerschen Zentralbahn verwickelt war. Bis zu seinem Lebensende blieb er publizistisch aktiv und verfaßte die bedeutende, anonym erschienene Schrift „Die Lösung der sozialen Frage. Vom Standpunkt der Wirklichkeit und Praxis. Von einem praktischen Staatsmanne“ (1878).

Obwohl Albrecht Konservative allgemein als Gegner politischen, sozioökonomischen oder religiösen Wandels bezeichnet, gesteht er ihnen zu, daß sich deren sozialer Flügel positiv zu technischen und industriellen Modernisierungen äußert. Die Akkumulation des Kapitals und die schrankenlose Konkurrenz war Ziel ihrer Sozialkritik. Ebenso das Finanzkapital, welches keine „ehrliche Arbeit“ leiste.

Erst unter dem Druck der Krise der Konservativen Partei (1858) begann der Übergang zum „modernen“ Antisemitismus. Er fand seinen Ausdruck im Vorwurf, konstatiert der Autor, die Juden hätten mit Unterstützung der kapitalismusfreundlichen liberalen Politik das soziale und wirtschaftliche Leben und somit die Stabilität der nationalen Volksgemeinschaft zerstört. So wurde unter anderem im Preußischen Volksblatt und der Wochenschrift Berliner Revue die „Judenfrage“ Anfang 1860 aufgegriffen. Die instrumentelle Verwendung des negativen Judenbildes gegen die Liberalen ist dort, wie in anderer Publizistik, offensichtlich und bildet somit eine der Grundlagen für das judenfeindliche Klima in bedeutenden gesellschaftlichen Strömungen des Kaiserreichs.

In seiner Dissertation weist Albrecht nach, daß ein früherer Bezug als bisher bekannt zwischen (Sozial-)Konservativismus und „modernem“ Antisemitismus“ existiert. Er schlußfolgert, daß der Antisemitismus nicht konstitutiv für die Weltanschauung der (Sozial-) Konservativen gewesen sei, die Handhabung der „Judenfrage“ keinen prinzipiellen, sondern politisch-instrumentellen Charakter hatte.

Henning Albrecht: Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855–1873. Schöningh Verlag, Paderborn 2010, gebunden, 596 Seiten, 85 Euro

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