© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/11 / 12. August 2011

Die Verschwörung des Schweigens
Franz Kadell beleuchtet den Massenmord von Katyn und Stalins langen Schatten über der Wahrheit
Andreas Graudin

Es gehört heute nicht nur in Polen zum historischen Grundwissen, daß auf Befehl Stalins im April 1940 etwa 15.000 polnische Offiziere, Beamte und Intellektuelle in der Sow-jetunion ermordet wurden. Mit den Verschollenen waren es weit mehr. Das Schicksal der in die UdSSR verschleppten Polen ähnelt dem der Rußlanddeutschen wenig später, von 230.000 in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenen polnischen Soldaten überlebte nur ein gutes Drittel.

Eine der Massenerschießungen ragt heraus. Nicht weil sie grausamer oder zynischer war als die an anderen Orte des roten Massenmordes davor und danach, sondern weil der Wald von Katyn bei Smolensk zum Mythos wurde. Ein reales Gespenst für die Täter, ein Trauma für die Polen, ein moralisches Desaster für den Westen. Der „Fall Katyn“ ist aufgeklärt. Täter, Helfershelfer und Opfer sind bekannt. Franz Kadell, Historiker und Journalist, beschreibt packend die Geschichte der listenreichen Verdeckung und Aufdeckung der zeitgleichen Massenmorde in Katyn, Starobelsk in der Ukraine und Ostaschkow am Seligersee.

NKWD-Chef Berija ist erbost über die Resistenz der intellektuellen und kleinadeligen polnischen Offizierskaste gegenüber der ideologischen Dauerberieselung durch seine Politruks in den Lagern. Solches Personal war für eine Sowjetisierung Polens nach einem Sieg Stalins auf dem europäischen Festland nicht zu gebrauchen. Diese Männer hatten nicht selten Vordienstzeiten in der den Bolschewisten verhaßten zaristischen Armee und gehörten zur intellektuellen und gesellschaftlichen Elite Polens der Zwischenkriegszeit. Alles geborene Feinde des Kommunismus, geprägt von nationalpolnische Geist und vom Katholizismus. Der Massenmord war so auch ein Klassenmord in logischer Fortsetzung der Kulakenvernichtung Ende der zwanziger Jahre und der millionenfachen Vernichtung der bäuerlichen Ukraine Anfang der dreißiger Jahre durch den sogenannten Holodomor.

Über die sowjetische Täterschaft kann es für die polnische Exilregierung in London ab Sommer 1942 keinen Zweifel geben. Während Stalin und Molotow nebulöse Ahnungslosigkeit über den Verbleib der Opfer vortäuschen, hat die polnische Exilregierung in London eigene Schritte unternommen. Polnische Zwangsarbeiter im Dienst der Deutschen im Raum Smolensk werden heimlich auf die Suche nach dem Massengrab Katyn angesetzt. Sie werden fündig. Der nie unterbrochene Funkkontakt der polnischen Heimatarmee im Untergrund mit ihrer Exilregierung ermöglicht die Information über ein polnisches Massengrab bei Smolensk.

Kurz danach stoßen die deutschen Besatzer auf die Spur des Verbrechens und weisen mit Hilfe einer internationalen Ärztekommission die sowjetische Täterschaft nach. Kadells Verdienst besteht in der Darlegung der Bestialität des Massenmordes in Verbindung mit den erheblichen politischen Folgewirkungen. Als die polnische Exilregierung in London den Sowjets mit Nachfragen zu Katyn auf die Nerven fällt, kommt das Stalin gerade recht, um eine kommunistische Marionettenregierung anzuerkennen und die diplomatischen Beziehungen zur Londoner Exilregierung Polens einzufrieren, was einem Abbruch gleichkommt.

Stalin nutzt so in gespielter Empörung über eine „faschistische Verleumdung“ der friedliebenden Sowjetunion den Katyn-Komplex zur Ausschaltung der polnischen Vorkriegseliten. Diesmal nicht mit Genickschüssen, sondern mit diplomatischen Mitteln. Das alles ist die Vorbereitung eines kommunistischen Glacis in Mitteleuropa, in dem nach Stalins Plänen ein nach Westen verschobenes sozialistisches Polen eine tragende Rolle spielen soll. Das alles wird Stalin auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 von seinen westlichen Verbündeten in Kenntnis der wahren Fakten zugestanden.

Kadell demaskiert die Mörder, die Helfershelfer, die Profiteure und die opportunistischen Nachbeter von Propaganda. Wie weit der Verrat der Briten an den Polen reichte, und ob an den mit Katyn in Zusammenhang stehenden Mordgerüchten an Exil-Ministerpräsident Wladyslaw Sikorski mehr daran ist als ein plausibler Verdacht, muß Kadell wegen noch lange geschlossener Londoner Archive offenlassen. Churchill hatte jedenfalls kein Interesse, den permanent die „zweite Front“ fordernden Stalin mit Fragen über den Verbleib polnischer Offiziere zusätzlich zu verärgern. Zu tief sitzt noch der Schock der Westmächte über den Coup des Hitler-Stalin-Pakts von 1939, und bis weit in den Krieg hinein kann Stalin ihnen mit einem nie wirklich beabsichtigten Separatfrieden mit Deutschland drohen.

In Nürnberg pokern die sowjetischen Ankläger ein bißchen zu hoch. Es gelingt nicht, eine deutsche Täterschaft festzuschreiben und damit einer späteren Revision zu entziehen. Inszenierte Schauprozesse gegen unschuldige deutsche Kriegsgefangene, die anschließend öffentlich gehängt werden, sollen statt dessen die Sowjetunion als Rechtsstaat erscheinen lassen. Das sind die Katyn-Opfer ohne Denkmal. 1992 gibt Boris Jelzin die Akten der Vernichtung der polnischen Eliten frei und übergibt einen Teil der NKWD-Akte den Polen.

Kadell zeigt Katyn als Gesamtdarstellung des politischen Mißbrauchs eines Traumas, das sich mit dem Absturz der polnischen Regierungsmaschine im Wald von Smolensk am 10. April 2010 erneuert. Es ist die Vorstellung von einem von allen Seiten verratenen Polen als Spielball der Nachbarn und Großmächte, die 1939 Bündniszusagen aus polnischer Sicht genauso brachen, wie sie 1944/45 die legitime und völkerrechtlich anerkannte Exilregierung fallenließen.

Die Idee Polens als „Christus unter den Völkern“ hat hier ihren fatalen Ursprung, denn diese Märtyrerrolle macht das Land zum schwierigen Partner, der gerne das moralisch überlegene Opfer gibt, während die Fakten in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs eine andere Sprache sprechen.

Franz Kadell: Katyn – Das zweifache Trauma der Polen. Herbig Verlag, München 2011, gebunden, 256 Seiten, Abbildungen,             19,99 Euro

Foto: Soldaten der Wehrmacht an einem Massengrab in Katyn: Den Sowjets gelang es nicht, eine deutsche Täterschaft festzuschreiben

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