© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

Deutschland wird ausgebeutet
Versailles ohne Krieg: Die politische Klasse will das eigene Land in Europa verschwinden lassen
Thorsten Hinz

Es ist belanglos, zu welcher Sprachregelung die Regierenden in Sachen europäischer Gemeinschaftswährung finden. Denn die politischen Manöver, die sich vor den Augen der Öffentlichkeit vollziehen, sind nur Spiegelfechtereien. Spätestens seit Beginn der Schuldenkrise vor anderthalb Jahren, genaugenommen bereits seit der Einführung des Euro, läuft die Entwicklung mit mathematischer Präzision auf eine Transferunion, auf die Vergemeinschaftung der Schulden und auf die allgemeine und umfassende finanzielle Ausbeutung Deutschlands zu.

Gewiß, Angela Merkel kann nicht wie einst die britische Premierministerin Margaret Thatcher mit der Handtasche auf den Konferenztisch schlagen und ihr Geld zurückfordern. Für ein Land im Herzen Europas stellen die Verhältnisse sich komplizierter dar als für eine Inselnation am Rande des Kontinents. Eben deshalb und weil Deutschland im Euro-Poker mehr als alle anderen zu verlieren hat, bräuchte es ein politisches Personal, das strategischen Weitblick mit Sachkompetenz und diplomatischer Finesse verbindet. Sarkozy, Berlusconi, Zapatero & Co. mögen Windbeutel sein, doch sie wissen wenigstens, daß sie zuerst dem eigenen Land verpflichtet sind. Und Merkel? Wer von ihrem innenpolitischen Machtinstinstikt auf ihre außenpolitischen Fähigkeiten geschlossen hat, darf sich widerlegt fühlen.

Bürgerliche Kritiker geben ihrer DDR-Sozialisation die Schuld. Dagegen ist einzuwenden, daß die Eigenschaften, die sie als „FDJ-Sekretärin“ herausgebildet hat, sie im politischen Ausleseprozeß der CDU und der Bundesrepublik ja ebenfalls in Vorteil gebracht haben. So groß können die Unterschiede der beiden politischen Biotope also gar nicht sein. Zu fragen wäre demnach, was für systemübergreifende Strukturen das sind, in denen sie sich so virtuos bewegt.

Ein Zitat kann als Metapher dienen. Am 9. November 2009 weilte Merkel in Paris auf der Jubiläumsfeier zum Ende des Ersten Weltkriegs. Bei dieser Gelegenheit sagte sie: „Wir werden nie vergessen, wie sehr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Franzosen durch Deutsche zu leiden hatten. Der schonungslose Umgang mit der eigenen Geschichte ist – davon bin ich überzeugt – die einzige Grundlage, um aus der Geschichte zu lernen und die Zukunft gestalten zu können.“

Damit hat die Kanzlerin das Schuldverdikt von Versailles, das einen antideutschen Raubfrieden begründete, faktisch anerkannt. Wer so redet, hat alle Bastionen der Selbstbehauptung geräumt und kann gegen das „Versailles ohne Krieg“, als das die Gemeinschaftswährung sich unter den aktuellen Umständen erweist, nicht mehr ankämpfen.

Der politischen Klasse und den systemimmanenten Journalisten, so der überwältigende Eindruck, kann es gar nicht schnell genug gehen, das deutsche Volksvermögen auf den Roulettetisch zu werfen. Die SPD agiert in der existentiellen Frage der Euro-Bonds ratlos und parteitaktisch, und die Grünen, deren Ziel die Überwindung Deutschlands ist, wollen sie ohne Wenn und Aber. Der Sozialpädagoge Cem Özdemir, ein Mann von mittlerer Reife und demnächst vielleicht Außenminister, kann sich ausrechnen, daß ein entmachteter deutscher Nationalstaat dem türkischen Beitrittswunsch zur EU keinen Widerstand mehr leistet.

Bei der Linkspartei verbindet sich der Ruf nach den Bonds mit der Hoffnung auf eine rot-rot-grüne Koalition auf Bundesebene. Indem sie ihre Machtperspektive mit der Zustimmung zur faktischen Fremdherrschaft (diesmal durch Brüssel) erkauft, erweist sie sich tatsächlich als Nachfolgepartei der SED. Kurzum: Die Deutschen haben Interessen, aber keine Politiker, die sie vertreten.

Der Historiker Golo Mann freute sich herzlich über das Ende des SED-Regimes, doch einen neuen Einheitsstaat lehnte er ab. Die politisch unbedarften Deutschen, meinte er, würden wieder nur Unsinn anrichten. Tatsächlich gab es nach Bismarck kaum Politiker, welche der außenpolitischen Komplexität, in der Deutschland sich befand, gewachsen waren. Doch 1990 wollte man bekanntlich alles besser machen. Der Euro wurde hinter vorgehaltener Hand damit begründet, daß andernfalls eine Lage wie 1913 drohe, als Deutschland von seinen Nachbarn eingekreist war.

Das aber war keineswegs unausweichlich. Die kollabierende Sowjetunion setzte ihre Hoffnungen auf Deutschland, nicht auf Frankreich oder England, und vor allem boten die USA der Bundesrepublik ein „Partnership in Leadership“, eine Partnerschaft in der Führung, an. Diese politischen Pfunde hätten ausgereicht, um Erpressungsversuchen der EU-Partner zu begegnen. Nur hatte sich in der Bundesrepublik keine außenpolitische Denkschule herausgebildet, die über die Zeit des Kalten Krieges hinausgedacht hätte und die nun Rat wußte. Kopflos stürzte die Bundesrepublik sich in das Euro-Abenteuer.

Nun versichern sämtliche Parteien, die Einführung der Euro-Bonds müsse natürlich mit einem Souveränitätsverzicht der Staaten einhergehen. Darin wird der Wunsch der politischen Klasse in Deutschland erkennbar, das eigene Land in Europa verschwinden zu lassen, um allen politischen Risiken zu entgehen.

Nur: Die anderen Völker teilen den Wunsch nach staatlicher Selbstauslöschung keineswegs. Was wollen die deutschen Politiker denn machen, wenn die Griechen, Italiener oder Spanier das Geld oder die Bürgschaften zwar einstreichen, gegen die angeordneten Sparmaßnahmen aber hinterher Sturm laufen? Soll dann ein Frauenbataillon der Bundeswehr in Athen, Rom oder Madrid für Ordnung sorgen?

Wie provinzlerisch und historisch ungebildet muß man beschaffen sein, um anzunehmen, daß auch nur ein einziges der stolzen europäischen Völker sich unter Drohungen den ordnungspolitischen Vorstellungen aus Deutschland unterwerfen wird?

Es ist eine historische Ironie, daß die vermeintliche Errungenschaft deutscher Machtvergessenheit das Bild des „häßlichen Deutschen“ auferstehen läßt. Golo Mann hatte mit seiner Befürchtung leider recht.

Im bundesrepublikanischen Bewußtsein bilden der Wohlstand und eine naive Europa-Fixierung die zwei entscheidenden Identitätsanker. Nun beginnen die Anker zu reißen. Wohin treibt dieses haltlose Land?

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