© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

Wie die EU die nationalen Souveränitätsrechte unterhöhlt
Methode Monnet
Barbara Rosenkranz

Das eine beteuern, das andere tun – das ist gängige Praxis in der Europäischen Union, damit versucht die politische Klasse, das Wahlvolk abzulenken und einzulullen. Wer sich dagegen kein X für ein U vormachen lassen will, muß sehen, daß der Rettungsschirm die Übernahme der Schulden der maroden Mitgliedsstaaten durch die anderen bedeutet und dem Bail-out-Verbot des Lissabon-Vertrages, der genau das ausschließen sollte, gänzlich widerspricht. Obwohl es offenkundig ist, wird die schleichende Einführung der Transferunion von der politischen Klasse geleugnet.

Ähnlich dreist wie bei der Verletzung der eigenen Regeln zeigen sich die maßgeblichen EU-Politiker auch bei der Mißachtung von nationalen Souveränitätsrechten und Demokratie. Den nationalen Parlamenten solle eine entscheidende Rolle zukommen, tönt es stets gönnerhaft, wenn der Brüsseler Zentralismus die europäischen Völker und ihre Parlamente nicht überzeugen konnte.

So reagierte im Sommer 2005 der Präsident der Europäischen Kommission mit einem vermeintlichen Entgegenkommen auf die Abstimmungsniederlagen über die EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden. Seinerzeit wurde die sogenannte „Barroso-Initiative“ ins Leben gerufen, um die Parlamente der einzelnen Mitgliedsstaaten zu beruhigen.

Nach offiziellen EU-Angaben war es das Ziel, in der „Reflexionsphase“ nach Ablehnung der europäischen Verfassung alle neuen Vorschläge und Konsultationspapiere direkt an nationale Parlamente weiterzuleiten. Die Parlamente wurden „eingeladen“, darauf zu reagieren, „um den Prozeß der Politikformulierung zu verbessern“. Stolz weist Barroso auf bislang 500 Treffen mit nationalen Parlamenten und das „begeisterte Echo“ der Abgeordneten hin. Daß derlei unverbindliche Gesprächsangebote keinerlei bindende Entscheidungen hervorbringen, wird dabei gern verschwiegen. Es geht in Wahrheit darum, demokratische Prozesse lediglich vorzuspiegeln. Eine beklemmend arrogante Auslegung des Wortes von der „EU als Projekt der Eliten“, die sich da zeigt.

In der Sache selbst läßt sich die Kommission weder von Protesten nationaler Parlamente noch von Regierungen beeindrucken, die bewußt einzelne Richtlinien nur unzureichend umsetzen. Die Entscheidungsträger in der Europäischen Union sind sich sicher, daß sie letztlich den längeren Atem haben werden. Immerhin kann eine Harmonisierung beziehungsweise Richtlinienumsetzung durch kleine taktische Schritte mit Hilfe der europäischen Gerichtsbarkeiten relativ leicht erreicht werden. So hat die EU-Justizkommissarin Viviane Reding Ende 2010 eine spezielle Form der Aushebelung nationaler Gesetzgebung vorgestellt. Hinter ihrer vermeintlich vernünftigen Idee – Bürokratieabbau durch automatische Anerkennung von Personenstandsurkunden – versteckte sich noch etwas ganz anderes: Die europaweite Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der Ehe, das Adoptionsrecht inbegriffen.

Für viele Politiker in den Mitgliedsstaaten der EU scheint es schlicht am bequemsten zu sein, alles abzunicken, was aus Brüssel kommt. Auf diese Weise können sie zudem die Verantwortung für ihr eigenes Versagen auf die EU-Ebene abwälzen.

Auch jene Staaten, deren nationale Verfassungen am klassischen Familienbild festhalten, sollen damit zur Anerkennung gedrängt werden. Ein gelungenes Beispiel für das „Tarnen und Täuschen“ in der EU, denn Reding scheint mit Widerstand zu rechnen. Sie erklärte: „Was wir nicht wollen, sind Gesellschaften, die gegen die gleichgeschlechtliche Ehe opponieren. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Wir müssen alle Mitgliedsstaaten auf der Basis unserer Richtlinien dazu bringen, diese Regeln zu akzeptieren. Für viele ist dies sehr neu und ungewöhnlich. Für einige ist es sehr schockierend (…) Falls kein Verständnis gezeigt wird, müssen schärfere Maßnahmen ergriffen werden.“

Natürlich drängt sich die Frage auf, warum es zu keinem größeren Aufbegehren der nationalen Parlamente und ihrer Abgeordneten kommt. Warum wehren sich nur wenige Regierungs- und Staatschefs wie Viktor Orbán und Václav Klaus gegen die Bevormundung durch die Europäische Union? Auch wenn die Gründe für die EU-Hörigkeit tatsächlich mannigfaltig sind, scheint es für viele Politiker in den Mitgliedsstaaten schlicht am bequemsten zu sein, alles abzunicken, was aus Brüssel kommt.

Auf diese Weise können sie zudem die Verantwortung für ihr eigenes Versagen auf die EU-Ebene abwälzen. Diese Abwälzungsstrategie funktioniert umgekehrt genauso, wenn zum Beispiel der jeweilige EU-Ratspräsident vermeintlichen „Blockierer-Staaten“ bei stockenden Verhandlungen den Schwarzen Peter zuschiebt.

Hinzu kommt der demokratiepolitische Geburtsfehler der Union. EU-Institutionen haben keinen Rechtfertigungsdruck. Weder müssen sie sich Wahlen stellen, noch kommen sie je wirklich unter Medienbeschuß. Eine „europäische Öffentlichkeit“ existiert schließlich kaum, ein europäisches Staatsvolk gar nicht. Gerät dagegen die politische Klasse eines jeweiligen Mitgliedsstaates durch nahe Wahlen etwa unter Druck, nationale Interessen zu vertreten, sieht sie sich in der Regel einer massiven Gegenkampagne ausgesetzt.

Man hat es jüngst bei der Diskussion um zeitweilige Grenzkontrollen im Schengen-Raum erleben können. Da wird vor einem neuen „Eisernen Vorhang“ gewarnt und die Opferung der „europäischen Idee“ auf dem Altar der „rechtspopulistischen“ Stammtische angeprangert. Ähnlich irrational wird jede sachliche Kritik am Euro-(Dauer-)Rettungsschirm mit einem abschreckenden Katastrophenbild abgewehrt.

Der Vorsitzende der Euro-Gruppe und luxemburgische Ministerpräsident, Jean-Claude Juncker, gab ein Beispiel für die Ohne-Euro-gibt-es-Krieg-Rhetorik Brüssels dieser Tage: „Ein Tag Krieg in Europa ist teurer als uns die ganze Euro-Rettungsaktion jemals kosten wird.“ Es sind solche Totschlagargumente, die durch die Medien transportiert und von den EU-Fanatikern wie eine Monstranz voran getragen werden.

Die kritische Prüfung der eigenen Positionen oder gar Manöverkritik gehört nicht zum strategischen Repertoire der EU-Politiker. Statt dessen machen sie aus der Not eine Tugend und nutzen die Krise geschickt, um die Zentralisierung zu forcieren und „Quasi-Notstandsverordnungen“ als Dauereinrichtungen durchzusetzen. So unterbreitete EZB-Chef Jean-Claude Trichet den Vorschlag, ein „EU-Finanzministerium“ mit Durchgriffsrecht auf die Wirtschaftspolitik der EU-Staaten zu installieren.

Von einem Wahlvolk wollen sich die EU-Größen aber nicht abhängig machen. Längst werden Stimmen laut, die dem „Pöbel“ jedes Entscheidungsrecht absprechen wollen; nicht erst seit dem Wahlsieg der „Wahren Finnen“. Einer derer, die nach einer Art „Erweckungserlebnis“ mit ihrer neuen Einsicht nicht hinter dem Berg halten, ist der Wiener Schriftsteller Robert Menasse.

„Eine Demokratie setzt den gebildeten Citoyen voraus, wenn der verlorengeht, wird Demokratie gemeingefährlich“, betont er nun ganz unbefangen. Diese Gewißheit sei ihm während der Recherchen zu seinem neuen Buch im Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der EU-Kommission, aufgegangen. Er empfiehlt, daß „das, was wir unter Demokratie verstehen, einfach entsorgt werden sollte. Man muß Demokratie neu erfinden, man muß die alte nationale Demokratie stoßen, damit sie fällt, damit der Platz frei wird für eine wirkliche und wahre europäische Demokratie.“

Die „Methode Monnet“ stellt bis heute die Handlungsrichtschnur der Brüsseler Bürokratie dar: Die EU entwickelt sich auf jenen Politikfeldern weiter zu den Vereinigten Staaten von Europa, wo der Widerstand der Nationalstaaten geringer ist.

Einer der Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft, Jean Monnet, war von eben dieser Idee beseelt. Heute würde man den Franzosen und ehemaligen Bankier in London und New York als klassischen Quereinsteiger bezeichnen, der über den Vorsitz der Schuman-Plan-Konferenz zum Präsidenten der Montanunion aufstieg.

Monnet vertrat die Ansicht, die Existenz von Nationalstaaten gefährde grundsätzlich die Erhaltung des neu geschaffenen Friedens. Ihr Einfluß müsse deshalb zurückgedrängt werden. Folgerichtig rief er das „Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa“ ins Leben. Dieser „think tank“ verwarf schon bei seiner Gründung 1955 ein „Europa der Vaterländer“. Sein Name war Programm.

Monnet wußte, daß die Idee des europäischen Bundesstaats nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann. Ihm war klar, daß ein allzu offenes Eintreten für dieses Langzeitziel wohl den Selbstbehauptungswillen nationaler Regierungen und Parlamente herausfordern mußte. Das Aktionskomitee spielte hierbei eine ganz entscheidende strategische Rolle, indem es als mehr oder weniger informelles Forum für die Absprachen von Politikern und Interessenvertretern aus der Wirtschaft diente. Aus den regelmäßigen „Gipfeltreffen“ entstand schließlich der Europäische Rat, den man als Nachfolger des „Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa“ verstehen kann.

Die „Methode Monnet“ stellt bis zum heutigen Tag die Handlungsrichtschnur innerhalb der Brüsseler Bürokratie dar: Die Europäische Union entwickelt sich auf jenen Politikfeldern weiter zu den Vereinigten Staaten von Europa, wo es geringeren Widerstand gibt, und agiert dort temporär flexibler, wenn sie auf größeren Widerstand stößt. Hauptangriffspunkt jeder Maßnahme sind die Souveränitätsrechte der Nationalstaaten. Doch genau an dieser Stelle muß der EU-Zentralismus an seine Grenzen stoßen. Es liegt in der Hand jedes einzelnen Mitgliedsstaates, den Brüsseler Vergemeinschaftungstendenzen Einhalt zu gebieten. Zuletzt hat Dänemark mit seinem Vorstoß in Sachen Grenzkontrollen gezeigt, daß ein einzelnes kleines EU-Land durchaus in der Lage ist, seine eigenen Interessen zu vertreten.

Der scheinbar unüberwindbare und „alternativlose“ Bürokratie-Koloß ist nur so mächtig, wie es die einzelnen nationalstaatlichen Regierungen zulassen. Die EU erweist sich beim näheren Hinsehen als „Papiertiger“, der zwar mit Sanktionsdrohungen laut poltert, letztlich doch zahnlos bleibt. Das hat Österreich bei den Strafmaßnahmen nach der ersten blau-schwarzen Regierungsbildung erlebt, Frankreich und die Niederlande nach der Ablehnung der EU-Verfassung. Bei Dänemark wird es nicht anders laufen. Es besteht definitiv kein Grund, daß sich die Regierungen dem Wohl ihres eigenen Staatsvolkes verschließen. Die repräsentative Demokratie als „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“ (Abraham Lincoln) wird in den „Vereinigten Staaten von Europa“ nicht angestrebt. Eine stärker demokratische Union – im Sinne von mehr direkter Mitbestimmung – ist bei mindestens 27 Mitgliedsstaaten nicht nur technisch kaum möglich, sie ist von den EU-Eliten auch gar nicht erwünscht.

Die politische Klasse der einzelnen EU-Länder steht vor der Wahl, entweder gemäß ihrem Wählerauftrag den demokratischen Nationalstaat zu vertreten oder aber die Verantwortung an eine europäische Zentralregierung abzugeben, die über keinerlei demokratische Legitimation verfügt und diese auch nicht anstrebt. Es handelt sich um eine freie Entscheidung. Ein „Europa der Vaterländer“, das nach innen von den Prinzipien der Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie getragen wird und sich um einen starken Auftritt auf der Weltbühne bemüht, ist die der großen nationalstaatlichen Tradition Europas würdigere Alternative.

 

Barbara Rosenkranz, Jahrgang 1958, ist stellvertretende FPÖ-Bundesvorsitzende und Mitglied der Landesregierung Nieder-österreichs. Die Mutter von zehn Kindern war Kandidatin der FPÖ für die Wahl zum Bundespräsidenten 2010.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen