© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/11 / 19. August 2011

Kreisende Planeten und die Kraft von Brauch und Sitte
Zwei Bücher zur Kindeserziehung wollen sich aus dem Wust der Erziehungsratgeber abheben, was nur teilweise gelingt
Ellen Kositza

Zwischen den erstem und dem vierten Kind von Felicitas Römer liegen knapp zwei Jahrzehnte. In den Achtzigern, so ihr Eindruck, gab es „höchstens zwei oder drei Erziehungsratgeber“, heute stehen Regalmeter parat – allein an Neuerscheinungen, versteht sich. Wie lernt ein Kind Tischmanieren, wie friedfertige Kommunikation, wie Fremdsprachen, wie lernt es Gehorchen und wie das Lernen generell?

Das Bewußtsein vom Kind als Zentrum des familiären Lebens ist relativ neu. Erst im Zeitalter der Aufklärung kam es zur „Erfindung der Kindheit“, das kindliche Wesen wurde als von der Sphäre der Erwachsenen geschiedenes Gebiet erkannt. Vor gut hundert Jahren wurde mit dem Wegfallen zahlreicher existentieller Notwendigkeiten das „Jahrhundert der Kindes“ (Ellen Key) ausgerufen und damit jenseits einer Oberschicht die Notwendigkeit einer dezidierten Erziehungstätigkeit ins Bewußtsein der Eltern gerückt.

Ab den sechziger Jahren wurde weniger das „wie“ denn das „ob überhaupt“ der Erziehung debattiert; der letzte Seufzer dieser antiautoritären Bewegung stammte von Herbert Grönemeyer: „Kinder an die Macht!“ Seither steht das In-den-Griff-Kriegen des Nachwuchses und, für Fortgeschrittene, die Optimierung seiner Laufbahn im Vordergrund der Betrachtung. Je weniger Kind pro Erwachsener – nicht nur innerhalb der Familie, auch in der gesamten Relation –, desto stärker rückt der Zögling in den Vordergrund, seine Interessen, seine Chancen, die Probleme, die er macht. Eigentlich ein Wunder im Zeitalter der Karrierefrauen: daß ausgerechnet Kochbücher und Erziehungsratgeber die Sachbuchranglisten anführen.

Binsenweisheiten und gesunder Menschenverstand

Zwei Autoren, die an der Peripherie des Erziehungsbetriebs schreiben, also nicht wie Michael Winterhoff, Jan-Uwe Rogge oder der jüngst verstorbene Wolfgang Bergmann als durchaus profunde Experten die öffentlichen Kanäle füllen, betrachten den tip- und trickbefrachteten Rummel ums Kind mit Skepsis. Felicitas Römer, Familienberaterin und – eine davon abgehobene Qualifikation – „Familien-Coach“ konstatiert vor allem einen ungeheuren Druck, den eine „Förderindustrie“ und Interessen der Wirtschaft auf Eltern und Kinder ausüben. Ralf Hickethier, promoviert in Pädagogischer Psychologie, stellt eine allgemeine Unsicherheit in Erziehungsfragen fest. Beide sind langjährig erfahrene Mehrfacheltern. Trotz aller Aversion gegen Allgemeingültigkeiten und einen Kanon des „Müssens“ hat man sich in beiden Fällen dem Ratgeber-Standard ergeben, wonach eine Tafel durchnumerierter „Gebote“ zwangsläufig zum Nutzwert eines Sachbuchs gehört.

Römer nennt diese im Anhang ihres Büchleins zusammengefaßten Leitsätze „Zehn Ideen für die Revolution im Taschenformat“. Diese Denkanstöße, die Thesen ihres Buches zusammenfassend, lauten per Überschrift beispielsweise „Keep cool. Gelassene Eltern, gechillte Kinder“. In der Erläuterung heißt es: „Wer das Kind ständig zum Büffeln zwingt, muß sich nicht wundern, wenn bald der Haussegen schiefhängt und das Kind keinen Bock mehr auf das Lernen hat.“ Darüber könnte man reden, auch über Idee Nr. 5, wonach jedes Kind ein Individuum sei und langsame Lerner ebenso zu kurz kämen wie Hochbegabte oder über Idee Nr. 7, „Try walking in my shoes. Perspektivenwechsel erwünscht“, die fordert, auch mal Probleme aus der Sicht des Kindes wahrzunehmen.

Ja, es ist keinesfalls Unsinn, den die vierfache Mutter schreibt, nur: Im ganzen Buch – weitgehend gehalten im vereinnahmenden Wir-Ton, „wir kreisen um das Kind wie Planeten um die Sonne“ – ist auch nicht eine neue Erkenntnis, kein anregender Gedankengang zu finden; Binsenweisheiten aus dem Humus des „gesunden Menschenverstandes“. Wenn es stimmt, daß die Erfahrungs- und Wissenskanäle der Kinder und Eltern mit Kompetenzzielen und Lehrinhalten geradezu zugeballert werden, so trifft dies leider auch auf diesen Ratgeber zu – ein weiteres Buch ohne Nutzwert, das sich in eine bereits übervolle Sparte drängt.

Ralf Hickethier führt seine „Zwölf Gesetze der Erziehung“ bereits im Titel, und ihre Proklamation liest sich einigermaßen sperrig und aufgrund ihrer universal gehaltenen Fassung teils wenig zur vertieften Lektüre einladend. Sein „2. Gesetz“ etwa postuliert „das Wichtigste für den Menschen ist der andere Mensch“, und als Subtitel: „Nur in der Beziehung zum Mitmenschen lernen wir Menschlichkeit.“ Zur Ausführung einiger seiner Grundsätze benötigt Hickethier nur zwei, drei Seiten, anderen widmet er ein Vielfaches – weite gedankliche Abschweifungen inbegriffen. Wer sich von diesem Ton einer freien Predigt und von dem bisweilen ungeordnet erscheinenden Satzbild nicht abschrecken läßt und sich auf eine vertiefte Lektüre einläßt, wird belohnt. Hickethier, Jahrgang 1951, Vater dreier erwachsener Söhne und ehemaliger Schulleiter der Paulus-Schule in Königswartha (dort trägt man Uniform und erhebt sich zum Reden!) schreibt jenseits pädagogischer Binsenweisheiten und teilweise gar quer dazu.

Es ist nicht so, daß sich der Autor dezidiert an deutschen Erziehungsirrtümern abarbeitet, doch sind gerade seine Einlassungen zu derart hausgemachten Problemen lesenwert. „Ohne Liebe zur Welt, aus der wir kommen, geht gar nichts“, lautet sein „1. Gesetz“. Gemeint ist die doppelte Bindung der Eltern sowohl zu ihren Kindern als auch zu ihren Vorfahren: Wer nicht die eigene Grundausstattung, die genetische wie die sozialisationsbedingte, ohne Bitterkeit annimmt, dessen Verhältnis zu den eigenen Kindern gerät ins Stolpern. Auch für das Schwanken mancher Eltern zwischen Vereinnahmung des Kindes und dem Sich-Vereinnahmen-Lassen hält Hickethier nationalgeschichtliche Parallelen bereit, die einleuchten: Ein Mittelding zwischen den Extremen, sich anderen in den Rachen zu werfen oder ihn umgekehrt selbst „fressen“ zu wollen, fällt uns schwer.

Für einen „typischen Weg der Konfliktlösung in Deutschland“ hält Hickethier auch das rigide „Kappen von Beziehungen“; er denkt dabei an Auseinandersetzungen, die oft genug kompromißlos enden: „Dann hau doch ab in die WG!“ Schulterzuckendes Abwenden sei nie der richtige Weg. Das häufig schon im Schulalter zu findende „Nebeneinanderleben“ von Eltern und Jugendlichen nennt der Autor ein falsches Verständnis von Freiheit.

Bindung müsse immer wieder neu stabilisiert werden. Dies funktioniere nicht durch Reden, Therapien oder „andere didaktische Attraktionen“, sondern durch „richtiges Tun im Alltag“. „Brauch und Sitte“ müssen sich beizeiten einpendeln – auch, indem man familiäre Hierarchien von Anfang an praktiziert. Durch die heutige „Gleichmacherei zwischen Kindern und Erwachsenen“, so Hickethier, „stehen die Lebenswasser“. Ein strengeres Lektorat hätte aus diesem verplaudert-klugen Buch eine kleine Fibel der Erziehungsweisheit machen können.

Felicitas Römer: Arme Superkinder. Wie unsere Kinder der Wirtschaft geopfert werden. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2011, 230 Seiten, 17,95 Euro

Ralf Hickethier: Zwölf Gesetze der Erziehung. Edition Sächsische Zeitung, Dresden 2011, broschiert, 128 Seiten, 9,90 Euro

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