© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/11 / 26. August 2011

Eins nach Thilo
Sarrazin-Debatte: Ein Jahr nach Veröffentlichung von „Deutschland schafft sich ab“ ist die Skandalisierung gescheitert
Erik Lehnert

Vor einem Jahr schien es so, als ob in Deutschland das Böse doch noch triumphieren würde. Davon mußte jedenfalls ausgehen, wer den Äußerungen von Medien und Politik in diesen Tagen Glauben schenkte. Sie alle überboten sich in Vorverurteilungen des Buches von Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“, aus dem am 23. August im Spiegel und der Bild-Zeitung erste Vorabdrucke erschienen. Sie waren so ausgewählt, daß der Skandal gleichsam vorprogrammiert war: „Thilo Sarrazins drastische Thesen über unsere Zukunft: Deutschland wird immer ärmer und dümmer!“ Und die Reflexe funktionierten wie erwartet.

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), sah bei Sarrazin „pauschale Polemik gegen muslimische Migranten“, die „diffamierend und verletzend“ sei. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Volker Beck, sprach schlicht von „Haßtiraden“. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) bezeichnete es als „unerträglich, was Herr Sarrazin mit seinen wirren sozio-biologischen Annahmen über die Intelligenz von Migranten zum wiederholten Male der Öffentlichkeit zumutet“. Für CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt stand fest: „Der Typ hat einen Knall.“ Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel schaltete sich ein und kritisierte, Sarrazin spitze „sehr, sehr polemisch“ zu und ließ über ihren Sprecher ausrichten: „Das sind Äußerungen, die für viele Menschen in diesem Land nur verletzend sein können.“

Die SPD schließlich hat mit Sarrazin bis heute ein ganz spezielles Problem: er ist dort seit 1974 Mitglied. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles nannte Sarrazin deshalb einen „unterbeschäftigten Bundesbanker mit ausgeprägter Profilneurose“ und legte ihm den Austritt nahe. Parteichef Gabriel bemühte kurzzeitig gar die Auschwitzkeule, indem er Sarrazin die Wiederbelebung „staatlich gelenkter Vererbungspolitik“, die bekanntlich nach Auschwitz geführt habe, vorwarf. Prominente Sozialdemokraten, wie Helmut Schmidt und Peer Steinbrück, unterstützten Sarrazin jedoch, und auch das Ausschlußverfahren scheiterte, nachdem Sarrazin eine Erklärung abgab, er habe nie die Absicht gehabt, mit seinem Buch „Gruppen, insbesondere Migranten, zu diskriminieren“ oder sozialdemokratische Grundsätze zu verletzen.

Noch vor Erscheinen des Buches am 30. August hatten damit im Grunde alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte das Buch in Bausch und Bogen verdammt. Auch wenn die Presseexemplare da bereits seit mehr als einer Woche im Umlauf waren, muß man annehmen, daß kaum jemand zu diesem Zeitpunkt das Buch in Gänze gelesen hatte. Wenigstens die Bundeskanzlerin hat das später auch zugegeben.

Doch mit der verbalen Verurteilung durch Politik und Medien, die bis zum FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher reichte, war die Sache für Sarrazin nicht ausgestanden. Man drohte ihm aus der Bundesbank ganz offen mit konkreten Sanktionen. Sarrazin habe sich „mehrfach und nachhaltig provokant geäußert, insbesondere zu Themen der Migration“, hieß es. Aufgrund ihrer besonderen Stellung müßten Vorstandsmitglieder bei politischer Betätigung Mäßigung und Zurückhaltung wahren. Diese Verpflichtung habe Sarrazin mit seinen Äußerungen „fortlaufend und in zunehmend schwerwiegendem Maße“ mißachtet. Seine Abberufung wurde beantragt. Der Bundespräsident, der darüber entscheidet und deshalb Neutralität wahren muß, hatte seine Ablehnung Sarrazins indirekt publik gemacht und war sichtlich froh, als Sarrazin einer finanziell abgepolsterten Abberufung zustimmte.

All das konnte auf der anderen Seite die Zustimmung für Sarrazin nicht trüben. Es verwundert deshalb im nachhinein doch, daß seine Gegner aus dem ersten Sarrazin-Skandal nichts gelernt hatten und wieder versuchten, ihn durch Diffamierung kaltzustellen. Die Haltung des Publikums war mehrheitlich eine ganz andere. Sarrazin, der bis dahin lediglich in Berlin für seine lockeren Sprüche als Finanzsenator berüchtigt war, hatte durch sein Interview mit der Kulturzeitschrift Lettre International bundesweite Popularität erlangt.

Die Mehrheit des Volkes stand hinter Sarrazin

Seit der Ankündigung des Buches im Mai 2010 wartete man daher gespannt. Die ersten Auflagen waren sofort vergriffen. Mittlerweile ist das Buch mit 1,3 Millionen verkauften Exemplaren das erfolgreichste Sachbuch in der Geschichte der Bundesrepublik. Sarrazins Lesereise wurde, trotz einiger „zivilcouragierter“ Absagen, zum Triumphzug.

Trotzdem gab es anfänglich nur sehr zaghafte öffentliche Unterstützung für Sarrazin, unter anderem durch Robbin Juhnke und Hans-Jürgen Irmer aus der CDU, den Ex-BDI-Chef Hans-Olaf Henkel und Udo Ulfkotte. Die Stimmung begann zu kippen, als die Bild-Zeitung am 4. September Sarrazin auf drei Seiten verteidigte und titelte: „Bild kämpft für die Meinungsfreiheit. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“. Darunter fanden sich Sätze wie: „Nicht wir müssen uns den Ausländern anpassen, sondern sie sich uns!“ oder: „Ich will mich nicht dafür entschuldigen müssen, ein Deutscher zu sein!“ Das Bild rundete sich durch Umfragen und zahllose Leserbriefe ab: Die Mehrheit des Volkes stand hinter Sarrazin. Einen Höhepunkt erreichte die Zustimmung am 28. September als Demoskopen das Potential einer „Sarrazin-Partei“ bei bis zu 26 Prozent sehen.

Dazu hat sicher auch beigetragen, daß sich die Medien im Zuge der Zustimmung immer differenzierter gegenüber Sarrazins Thesen zeigten. Seite Mitte September 2010 kann er selbst immer wieder in der FAZ auf Anwürfe reagieren und dort letztlich einer Deutungshoheit nahekommen. Es erscheinen aber auch Beiträge, die seine Aussagen für wissenschaftlich korrekt erklären und damit viel zur Versachlichung der Debatte beitragen. Bis heute sind seine Thesen, trotz vollmundiger Ankündigungen seiner Gegner, nicht widerlegt worden.

Daß Sarrazin dafür erst die öffentliche Hinrichtung erdulden mußte, sagt viel über die Meinungsfreiheit in Deutschland aus. Sein Fazit lautet deshalb nicht umsonst: „Wenn sich keiner gegen die Einengung des Meinungsklimas in unserem Land stemmt, könnte es sein, daß wir bald wieder in einer Diktatur aufwachen.“

 

Vom Tabu zum Triumph? Die Sarrazin-Debatte 2010 bis 2011

23. August 2010

Auszüge aus Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ erscheinen im Spiegel und in der Bild-Zeitung. Es hagelt Kritik aus der Politik: SPD-Chef Sigmar Gabriel legt Sarrazin den Parteiaustritt nahe, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), wirft ihm „pauschale Polemik gegen muslimische Migranten“, die „diffamierend und verletzend“ sei, vor. Bundeskanzlerin Angela Merkel nennt seine Thesen „überhaupt nicht hilfreich“. Aus „Sicherheitsgründen“ werden erste Lesungen abgesagt.

 

2. September 2010

Der Vorstand der Bundesbank beantragt beim Bundespräsidenten die Abberufung Sarrazins. Einen Tag später eröffnet der SPD-Kreisverband ein Ausschlußverfahren gegen ihn. Beim SPD-Bundesvorstand gehen Tausende Protestschreiben von Bürgern ein, die sich mit Sarrazin solidarisieren. Laut Umfrage würden 18 Prozent eine imaginäre „Sarrazin-Partei“ bestimmt wählen. Bereits nach einem Monat liegt die Gesamtauflage seines Buches bei 650.000 Exemplaren.

9. September 2010

Die Bundesbank zieht ihren Abberufungsantrag zurück, Sarrazin bittet um seine Entlassung aus dem Vorstand. Er stellt in Potsdam und Berlin vor 750 beziehungweise 800 Zuhörern sein Buch vor.

15. November 2010

Helmut Schmidt und Peer Steinbrück sprechen sich öffentlich gegen einen Parteiausschluß Sarrazins aus.

26. Januar 2011

Die Integrationsbeauftragte Böhmer räumt ein: „Sarrazin spricht die richtigen Problemfelder wie Bildung und Sprache an.“

21. April 2011

Sarrazin bleibt SPD-Mitglied: Der Bundes- und der Berliner Landesvorstand ziehen die Parteiausschlußanträge zurück.

11. Juni 2011

Die Staatsanwaltschaft Darmstadt stellt ihre Ermittlungen gegen Sarrazin wegen des Verdachts der Volksverhetzung ein. Hintergrund des Verfahrens war die Äußerung des früheren Berliner Finanzsenators, die Deutschen würden wegen Zuwanderern mit geringerer Bildung vor allem aus der Türkei sowie dem Nahen Osten „auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer“.

17. Juli 2011

Sarrazin warnt vor „Kreuzberger Zuständen“ in Deutschland. Anlaß war sein Besuch des Berliner Multikulti-Stadtteils zusammen mit der türkischen Journalistin Güner Balci, bei dem er als „Rassist“ beschimpft wurde und ein türkisches Restaurant verlassen mußte.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen