© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/11 / 26. August 2011

„Keine Rache, kein Plündern“
Libyen: Trotz aller Euphorie blickt das ölreiche Land in eine ungewisse Zukunft
Günther Deschner

Es war das seltsame arabische Wechselbad der Gefühle: Während man auf den Straßen von Tripolis schon den Sieg der Rebellen feiert, melden sich ein paar Ecken weiter noch Freiwillige für Gaddafi, seine Söhne sterben mehrmals, werden gefangen und dann geben sie wieder gut gelaunt Pressekonferenzen. Man ärgert sich über manche Spielarten von Journalismus und es fällt schwer, zwischen Meldung und Falschmeldung zu gewichten. Aber trotz allen Zweifels ist doch schon sicher, daß der Prozeß des Machtwechsels in Libyen einen Kulminationspunkt erreicht hat – auch wenn sich das Ringen um viele Landstriche des riesigen Öl- und Wüstenlandes, das doppelt so groß ist wie Deutschland und Frankreich zusammen und das doch nur gerade mal sechs Millionen Einwohner zählt, noch einige Zeit hinziehen könnte.

Ein buntes Flickwerk stark bewaffneter Gruppen

Zu diesem Zeitpunkt rückt jetzt der Nationale Übergangsrat der Aufständischen stärker in den Fokus. Fällt Gaddafi, übernimmt dieses demokratisch nicht legitimierte Gremium die Macht in dem politisch und ethnisch zerrissenen Land. Die Rebellenregierung im ostlibyschen Bengasi wird von den USA, den meisten europäischen Regierungen und vielen arabischen Staaten längst als rechtmäßige Vertretung des libyschen Volkes gesehen.

Das gilt auch für die Nato. Das Bündnis kämpft auf der Grundlage einer ursprünglich rein humanitär ausgerichteten UN-Resolution als Kriegspartei an der Seite der Aufständischen. Ihr zuletzt galoppierendes Vorrücken haben die Aufständischen vor allem der Nato zu verdanken. Deren Luftoffensive hat den Rebellen den schnellen Weg in die Hauptstadt Tripolis geebnet – auch wenn das nicht dem offiziellen Auftrag des Bündnisses entsprach. In den vergangenen Tagen, so die New York Times, hätten die Amerikaner „rund um die Uhr“ die unter der Kontrolle Gaddafis verbliebenen Gebiete aus der Luft überwacht: „Sie setzten Predator-Drohnen ein, um Truppen zu verfolgen und sie aus der Luft zu zerschlagen.“ Das sei der entscheidende Faktor gewesen, „um das Kräfteverhältnis zwischen Gaddafi-Truppen und Rebellen zu verschieben“. Der Gewährsmann der Zeitung betonte den „engen Kontakt zwischen Nato und Rebellen, auch wenn das offizielle Nato-Mandat lautet, Zivilisten zu schützen, und nicht im Konflikt aktiv Partei zu ergreifen“.

Die militärischen Kräfte der Rebellen stellen ein buntes Flickwerk bewaffneter Gruppen dar: ehemalige Soldaten, spontan organisierte Milizen, Straßenbanden und Reste einer in den 1990er Jahren von Gaddafi zerschlagenen islamistischen Untergrundbewegung. Auch über die inneren politischen Machtstrukturen der Rebellen ist wenig bekannt. Die näher rückende Entscheidung stellt auch sie vor große Herausforderungen. Immer mehr drängt sich nun die Frage in den Mittelpunkt, ob und wie die neuen Kräfte ein Machtvakuum nach Gaddafi ausfüllen und Anarchie im Land verhindern könnten.

Die wichtigsten Gruppen, die sich in Bengasi als Nationaler Übergangsrat formiert haben, sind ein sehr heterogener Block. Zum Rat gehören übergelaufene frühere Mitglieder der Gaddafi-Regierung sowie langjährige Oppositionelle verschiedenster politischer Couleur – von arabischen Nationalisten über Islamisten, Sozialisten bis hin zu Geschäftemachern. Wer aber wirklich von Gewicht ist, wer die Fäden zieht in der Übergangsregierung der Gaddafi-Gegner, ist undurchsichtig. Nach außen hin wird der Rat sowohl von früheren Regime-Vertretern als auch von demokratischen Oppositionellen dominiert.

„Präsident“ Mustafa Abdel Dschalil ist ein Ex-Justizminister Gaddafis; er hatte dem Diktator mehr als einmal widersprochen. Auch Ahmed Dschibril, der als „Regierungschef“ der Rebellen fungiert, ist ein in Ungnade gefallener Ex-Getreuer. In Botschaften „an alle Kämpfer gegen Gaddafi“ appellierte er: „Rächt euch nicht, plündert nicht, greift keine Ausländer an und achtet die Gefangenen, auch dann, wenn es sich um Vertraute Gaddafis oder seine Familie handelt. Lebt die Rechte vor, für die wir gekämpft haben.“ Auch andere Frontfiguren des Rats machen einen manierlichen Eindruck, Abdel Hafis Ghoga etwa, der Vize-Chef, hatte als Rechtsanwalt vor der Revolution Regimekritiker verteidigt.

Nur wenig demokratisch gesinnte Politiker

Zu einem geordneten Machtwechsel soll auch ein „Stabilisierungsteam“ beitragen, das sich laut Aref Nadschad, Libyens Botschafter in den Vereinigten Arabischen Emiraten, gebildet hat. Es solle in Fragen von Sicherheit, Gesundheitsversorgung und Infrastruktur „den Übergang leiten“, und auch Beamte der bisherigen Verwaltung sollen ihm angehören. Es dürfe „keine Rache und keine Revolutionstribunale“ geben, verlangt Nadschad.

Schöne Worte – doch welche Durchsetzungskraft sie erlangen, ist unklar: Denn der Übergangsrat, der sich als Kern einer neuen Regierung versteht, hat 40 Mitglieder. Gut zwei Drittel von ihnen sind bislang namentlich nicht bekannt – „aus Sicherheitsgründen“ angeblich. Sicher ist jedoch, daß nur wenige von ihnen demokratisch gesinnte Politiker wie Ghoga sind. Libyens politisches Lebensgesetz sind nicht seine Parteien, sondern seine konkurrierenden Stämme. Unter den anonymen Ratsmitgliedern werden sich deswegen auch Stammesführer mit unversöhnlichen Eigeninteressen befinden sowie auch Islamisten aller Couleur. In den 1980er Jahren hatte Gaddafi sie zum Dschihad gegen die Russen nach Afghanistan geschickt – um sie loszuwerden. Doch als sie mit den Ideen von al-Qaida und entsprechenden Kontakten im Gepäck heimkehrten, wurden sie von Gaddafi rücksichtslos bekämpft. In der Rebellenarmee sollen sie eine große Rolle spielen.

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