© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/11 / 26. August 2011

Aus glühenden Strudeln
Im Konkreten enthüllt sich das Wunderbare: Meisterwerke von William Turner in Hamburg
Sebastian Hennig

Im November vorigen Jahres fand in Hamburg ein internationales Symposium statt, in dem die Bedeutung der Elementargewalten in den Landschaftsdarstellungen des englischen Malers William Turner erörtert wurde. Die nun in einem Ausstellungskatalog publizierten Beiträge erschließen dieses Treffen als eine Art theosophisches Konzil.

Die Kunsthistoriker stehen zu den Kunstschaffenden wie die Scholastiker zu den Visionären. Den großen Malern verschmilzt sich Sinnliches und Übersinnliches von selbst in ihren Bildern. Ihnen enthüllt sich, wie einst Jakob Böhme, die Herrlichkeit des Schöpfers im Widerschein der Sonne auf einem Zinnkrug, während jene darüber rechten, wieviele Engel auf einer Nadelspitze Platz finden.

Den Turner-Nachlaß verwahrt die Londoner Tate Gallery als ihren kostbarsten Schatz. Selten leiht sie in so großem Umfang wie jetzt nach Hamburg. Im Anschluß gehen die Bilder nach Warschau zur ersten Turner-Ausstellung in Polen. Der letzte Ort der Ausstellung wird Margate an der Südküste Englands sein. Das ist eine Rückkehr an den Ausgangspunk. Viele von den Luft und Wasser zugeordneten Bildern der Ausstellung entstanden dort, wo Turner seine loveliest skies erlebte.

Einen besonderen Ansatzpunkt für die Verbindung von Turners Malerei mit der antiken Vier-Elemente-Lehre bietet seine malerische Verdichtung des Lichtes, das auf diesen Bildern immer wieder bis an seine Wurzel, das Feuer zurückgeführt wird. Während dieses in den Landschaften anderer Maler der Epoche allenfalls in Nachtstücken als Lagerfeuer-Staffage, in flammenden Sonnenuntergängen oder im pittoresken Sonderfall des Vulkanausbruches gegenwärtig ist, hat es für Turner eine zentrale Bedeutung.

Auch seine Seelandschaften präsentieren weniger kühle Widerspiegelungen des Himmels als vielmehr die gleißende Fülle eines alldurchdringenden Lichtes. Und selbst die Wellen züngeln oft wie Flammen. Während Caspar David Friedrich die Landschaft in transparenten Schichtungen und oft in Dunkel und Nebel ausbreitet, läßt der Engländer sie in glühenden Strudeln aufsteigen. Man kann darin den Gegensatz der Neptunisten und Plutonisten erkennen, der die romantische Theorie in beiden Ländern stark beeinflußte und zugleich der jeweiligen Lebenswirklichkeit entsprach. In der Walpurgisnacht läßt Goethe Anaxagoras und Thales über den Ursprung streiten: „Durch Feuerdunst ist dieser Fels zu Handen. – Im Feuchten ist die Welt erstanden.“

In einem Ölgemälde ist folgerichtig das vom titanischen Menschen geschürte Feuer der industriellen Revolution gegenwärtig. „Der Held der hundert Schlachten“ wurde für eine repräsentative Ausstellung vom Künstler umgearbeitet aus einer vierzig Jahre zuvor entstandenen Darstellung der Schmelzöfen einer Eisenhütte. In einer kreisförmigen Aureole von Licht erscheint nun, wie der triumphierende Jesus auf Grünewalds Altar, ein berittener Herzog Wellington.

Als eine Apotheose des Kriegers wird der Guß der seinerzeit größten Bronzestatue der modernen Welt in Szene gesetzt. Die Ausstellung des Bildes wirkte 1847 als ein stilles Bekenntnis. Denn als Königin Victoria höchstselbst die Entfernung der Statue verfügte, reagierte der alte Herzog empfindlich, und die unpassende, aber heroische Installation blieb bis 1884 bestehen: Ein Kampf der Götter gegen die Titanen, in dem die Trennlinie sehr unübersichtlich verlief.

Anschauung extremer Phänomene in der Natur

Von der konkreten Anschauung extremer Phänomene in der Natur angeregt, kommt Turner ganz natürlich und ohne den Kostümprunk der Historienmaler zu Tableaus von mythischer Tragweite. Schon Empedokles von Agrigent verband in seiner Vier-Elemente-Lehre die Naturgewalten mit dem Mythos und der Philosophie: „Denn die vier Wurzelkräfte aller Dinge höre zuerst: Zeus der schimmernde und Here die lebenspendende sowie Aidoneus und Nestis, die durch ihre Tränen irdisches Quellwasser fließen läßt.“

Alles Schreiben und Denken über Bilder soll Wegweiser zur Betrachtung derselben sein. Aber die theoretischen Einlassungen weisen zu oft von den Bildern weg in die verschlungenen Gedankengänge akademischer Kunst-Anzeiger. In Hamburg wird die Vorweisung der Originale zur Krönung und Korrektur eines vorangegangenen Gedankenaustauschs über den Maler. Im Angesicht der Bilder werden die Thesen und Kommentare in ihre periphere, dienende Stellung gegenüber dem Werk zurechtgerückt. Turner ist kein abschweifender weltferner Mystiker, sondern ein genauer und unermüdlicher Beobachter des Gegenwärtigen. Im Konkreten enthüllt sich ihm das Wunderbare.

Dabei verfeinerte er immer weiter seine Ausdrucksweise. Einerseits gibt es hingehauchte Erscheinungen aus farbigem Wasser, sodann aber auch genau ausgeführte Blätter in der gleichen Aquarelltechnik. So das Bild von Ramsgate aus der Reihe „The Ports of England“. Ein zackiger Wellenkamm verdeckt die Rumpfmitte eines Zweimasters vor der Hafenmole. Unter den Gewitterwolken schießt Sonnenlicht hervor, wodurch die Szenerie etwas Pathetisches erhält: Die Hafenmauer glänzt wie eine goldene Schärpe, während der Leuchtturm links im Bild glanzlos und grau im Dunst liegt.

Ein Ölgemälde zeigt, wie eine Reihe kleiner schräggelegter Schifferboote ein zwar majestätisches, aber manövrierunfähiges Schiff in den Hafen bringen. Schwere pariserblaue Wolken ziehen über den Himmel Kampaniens, in den die wuchtige und doch feine Silhouette des Tempels von Paestum ragt. In breiter Gewalt wälzt sich eine Gewitterfront über den Meeresspiegel der Küste entgegen: „Sturm vor Margate“ (1835–1840).

Ein anderer Blick auf die gleiche Landschaft zeigt eine weite stille Wasserfläche über der wenige längliche Wolkenfetzen hängen. Auch in die großformatige Ölmalerei geht die Küstengegend ein. Zwei jener späten überlichteten Seestücke gelten zu zwei Dritteln dem Himmel. Beide Male wird die Küste vom Meer aus gesehen. Ein kreidig gelber Himmel über dem schwarzdräuenden Wasser und eine „Yacht nähert sich der Küste“ und folgt dabei einer goldenen Spur, die von der tiefen Sonne über den Spiegel des Meeres gelegt wird.

Auf einem Ölbild auf Mahagoni tummeln sich Kinder und Hunde im Brandungsstreifen, wo die Pfützen im Abendsonnenlicht perlmuttern schimmern. Der Bildtitel erzählt die Geschichte: „Neumond oder Ich habe mein Boot verloren, Du sollst Deinen Reifen nicht haben“. Es handelt sich um ein weiteres jener repräsentativen Gemälde, die der Künstler zu den regelmäßigen Ausstellungen der Royal Academy zeigte.

William Turner, Neumond oder „Ich habe mein Boot verloren, Du sollst Deinen Reifen nicht haben“, ausgestellt 1840: Das Licht hat für den 1775 in London geborenen Maler eine zentrale Bedeutung

William Turner, Der Brand des Parlaments, Farbstudie, 1834

Die Ausstellung „William Turner. Maler der Elemente“ ist bis zum 11. September im Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, in Hamburg täglich von 11 bis 19 Uhr, Do. bis 21 Uhr, zu sehen. Der gebundene Katalog mit 256 Seiten und etwa 160 Abbildungen kostet 45 Euro. Telefon: 040 / 36 09 96 0, www.buceriuskunstforum.de

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