© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Das verlorene Jahrzehnt
Zehn Jahre nach dem 11. September 2001 ist Amerika militärisch und finanziell ausgezehrt
Günther Deschner

Es gibt Ereignisse, die die Welt veränderten, historische Wendemarken, die dem Lauf der Dinge eine neue Richtung gaben: die Entdeckung Amerikas beispielsweise, der Sturm auf die Bastille oder der Beginn der Russischen Revolution. Die letzte historische Zäsur dieses Gewichts war 1989/90 das Ende des Kalten Krieges, als in nur wenigen Monaten das einst mächtige sowjetische Imperium einstürzte und von der weltpolitischen Bühne abtrat.

Der 11. September 2001 dagegen gehört in eine andere, aber dennoch nicht unwichtige Kategorie: Man muß weit in die Vergangenheit zurückblicken, um ein Ereignis auszumachen, das die Welt so erschüttert hat wie dieser Tag. Er war aber weniger Auslöser als vielmehr Katalysator in den bereits laufenden politisch-religiösen Zuspitzungen, die Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ vorhergesagt hatte. Mit großer Bestimmtheit hatte er prophezeit, daß nach dem Ende des Ost-West-Konflikts neue Fronten aufbrechen würden.

Seit dem Zusammenbruch der sowjetischen Macht war das internationale System im Fluß. Ein ganzes Jahrzehnt lang hatte Amerika den einzigartigen Status, eine „Weltmacht ohne Gegner“ zu sein. Der Zusammenbruch des Ostblocks und das Ende des Kalten Krieges hatten eine Zeit stabiler geopolitischer Verhältnisse, wachsenden außenpolitischen Spielraum und die sogenannte „Friedensdividende“ beschert: Um diese „Position des überlegenen Abstands“ zu allen anderen Mächten der Erde nach 1989 zu sichern, formulierten das Weiße Haus und das Pentagon eine neue global ansetzende Sicherheitsdirektive. Sie war inspiriert von der Idee, daß in der zukünftigen Weltordnung allein den Vereinigten Staaten eine „globale Souveränität“ zukomme – eine „Grand strategy“, in der die USA international die Regeln über Allianzen und Blockbildungen setzten, den Krisenfall („Notstand“) bestimmten und die Unterscheidung zwischen Freund und Feind wie die damit verknüpfte Entscheidung über den Einsatz von Gewalt in ihrer eigenen Logik träfen.

Von einem Tag auf den anderen, am 11. September 2001, schien das Erbe dieser goldenen Neunziger verspielt. Osamas Todesboten trafen die Zwillingstürme des World Trade Centers, sie trafen das Pentagon, und sie wollten auch das Weiße Haus treffen: Sie zielten auf die Symbole der Vereinigten Staaten von Amerika und trafen sie ins Herz ihres Finanz- und Wirtschaftszentrums, ins Herz ihrer politischen Macht und am Ende auch ins Herz ihrer offenen Gesellschaft. Die Bilder der einstürzenden Zwillingstürme zeigen nicht nur die Maßlosigkeit dieser Anschläge – sie erklären in gewisser Weise auch die Heftigkeit der Gegenreaktionen. Nach innen wurde eine neue Sicherheitsarchitektur entwickelt, die Einschnitte bei den Bürgerrechten bedeuteten. Doch die amerikanischen Sicherheitsbehörden können es sich als Erfolg anrechnen, daß es keine Anschläge mehr von außen gab. Mit dem 11. September wollte George W. Bush die Invasion Afghanistans und seinen schon lange geplanten Angriffskrieg im Irak rechtfertigen. Was daraus entstand – Folter, Mord, Guantánamo und Abu Ghraib –, war das, was letztendlich zur Entfremdung der Welt von Amerika beitrug und was dessen Anspruch, Wächter der Menschenrechte, von Demokratie und Freiheit zu sein, so unglaubwürdig machte. Bis heute sind die Wunden nicht vernarbt, die der 11. September und Washingtons Antwort darauf auch zwischen den Kulturen geschlagen haben – das Mißtrauen sitzt immer noch tief zwischen Orient und Okzident, zwischen islamischer und westlicher Welt.

Es steht fest, daß das Jahrzehnt, das am 11. September 2001 begann, für die Vereinigten Staaten ein verlorenes war. Der „unipolare Moment“ und die imperiale Machtentfaltung endeten glanzlos im irakischen Wüstensand und in den Schluchten des Hindukusch. Amerika hat seine militärischen Kräfte extrem beansprucht, vielleicht sogar überdehnt. Eine Fußnote des Irak-Kriegs, bei dem die Amerikaner ihre große militärtechnologische Überlegenheit demonstrierten, ist das bis dahin beispiellose innerwestliche Zerwürfnis: Europäische Regierungen, speziell die Bundesregierung, die gut eineinhalb Jahre zuvor noch uneingeschränkte Solidarität bekundet hatte, verweigerten die Gefolgschaft und bildeten ein Widerlager im UN-Sicherheitsrat.

Das Geschehen hat auch eine ökonomische Dimension. Überschuldung, Finanzkrisen, schlechte Bewertung der Bonität – auch wegen der Kriege, die das Land seit zehn Jahren führt, haben sich die USA im vergangenen Jahrzehnt von der unbestrittenen Weltmacht Nummer eins und dem bewunderten Vorreiter der Globalisierung in einen Problemfall verwandelt.

Der Sturz von Haushaltsüberschüssen zu horrenden Staatsschulden geht zwar auch auf massive Steuersenkungen – nicht nur für die Reichen – und die enorme Ausdehnung der staatlichen Gesundheitsversorgung auf Pump zurück, vor allem jedoch auf die nur über Kredite finanzierten Kriege in Afghanistan und im Irak. Die haben nach der Berechnung von Wissenschaftlern an der renommierten Brown University inzwischen bis zu vier Billionen Dollar gekostet – das entspricht der gesamten Neuverschuldung der USA von 2005 bis 2010.In der Zwischenzeit ist China, der große Rivale der USA im 21. Jahrhundert, ihr größter Gläubiger und zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt geworden. Der ökonomische Aufstieg Asiens und insbesondere Chinas hatte lange vor dem 11. September 2001 begonnen. Aber Amerikas Antwort darauf hat diese globale Machtverschiebung beschleunigt.

Es ist am Ende des amerikanischen „Kriegs gegen den Terror“ eine seiner Paradoxien, daß dessen Sieger das unbeteiligte China ist – während Amerika mehr darum ringen muß, die Kontrolle über seine Staatsfinanzen wiederzugewinnen, als darum, die Weltmacht Nummer eins zu bleiben.

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