© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Bisweilen überkommt ihn die kalte Wut
Ein heimatloser Linker: Der Romancier, Essayist und Satiriker Eckhard Henscheid wird siebzig
Werner Olles

Henscheid ist ein Erdteil“ urteilte Martin Mosebach in seiner Laudatio zur Verleihung des Italo-Svevo-Preises an den geschätzten Kollegen anno 2004. Daß der Gelobte darüber hinaus ein „Meister der Kulturkritik (…), groß als Essayist und genial als Humorist ist“ (Neue Presse), aber zweifellos auch als Erzähler, Dramatiker und exzellenter Musikkenner, als Schach- und Fußballexperte und – nicht zu vergessen – als Literatur-, Kunst- und Kulturkritiker seine Meriten hat, darf in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. Stellt er dies in über dreißig Büchern, vor allem aber in seiner großen Werkausgabe, von der jetzt bereits der zehnte Band vorliegt, so gründlich unter Beweis, daß selbst Martin Walser, sonst eher sparsam mit allzu großem Kollegenlob, nicht umhin kam, den Roman „Maria Schnee“ als Erzählwerk „mit dem größten mir bekannt gewordenen Atomgewicht“ zu empfehlen.

Eckhard Henscheids Bedeutung im Literatur- und Kulturbetrieb ist die eines absoluten Solitärs. Dabei ist der 1941 im oberpfälzischen Amberg geborene Schriftsteller, der ursprünglich Musiklehrer werden wollte, in München Germanistik und Publizistik studierte und nach einer Redakteurstätigkeit in Frankfurt am Main seit 1971 als freier Autor abwechselnd in Frankfurt, im heimatlichen Amberg und im Schweizer Exil in Arosa lebt, einerseits immer noch ein Geheimtip für Eingeweihte und vom Henscheid-Virus unheilbar Befallene, anderseits erreichen seine Bücher hohe, bisweilen sechsstellige Auflagen. Wo also soll man so jemanden verorten beziehungsweise einordnen, dessen immer zahlreicher werdende Fangemeinde ihm nun seit den Anfängen der legendären Neuen Frankfurter Schule (NFS) stets die Treue gehalten hat, was manchmal dazu führte, daß Leser in Scharen zu den Orten seiner Romane in Frankfurt und Amberg pilgerten, in der Hoffnung, „dort die Zustände vorzufinden, „wie Henscheid sie (…) erdacht und verdichtet hat“ (Bernd Eilert)?

Am besten nähert man sich Henscheid aus der Distanz des Lesers, genießt die stupende, ausgepichte Virtuosität seiner Sprache mit ihrem ganz eigenen charakteristischen Klang, seine polemischen Aus- und Einfälle oder versucht, die in seinen Texten versteckten Opern- und Literaturzitate zu entziffern. Der flüchtige Leser übersieht dabei so manch gelungene Reverenz, die Henscheid zum Beispiel Dostojewski und Kafka erweist, wobei auch Theodor Adorno, Arno Schmidt und Thomas Bernhardt nicht zu kurz kommen. Der Henscheidsche Manierismus umfaßt eine derartige Vielzahl eigenständiger Gattungen und Genres, daß einem schwindlig wird. Las man eben noch den bezaubernden Roman „Maria Schnee“ oder folgte atemlos den Spuren der „Mätresse des Bischofs“, so begegnen wir ihm in den „Sudelblättern“, die sogar 19 Folgen lang im Zeit-Magazin erscheinen durften, bis es der Gräfin dann wohl doch zuviel wurde, als begnadetes Lästermaul. Eine kleine „Sudelblätter“-Kostprobe, bei der es um ein Buch mit dem schönen Titel „Sterbende brauchen Solidarität“ geht, sei dennoch gestattet: „Also, was immer Sterbende brauchen: Liebe, Zuwendung, Trauer, Lügen, Trost, ein großes Pils – auf eines können sie mit Sicherheit verzichten: auf Solidarität. Weil das qua definitione nicht geht: weil nämlich das eine stirbt, die anderen weiterleben.“

Daß Henscheid nach eigenem Ermessen ein „heimatloser Linker“ ist, hat ihn nie daran gehindert, die alten und neuen Sumpfblüten aus den sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Niederungen besonders aufs Korn zu nehmen. Es ist die unselige Neigung zu bauernfängerischem, klebrigem Kitsch, zum Mangel an Distinktion und zur flachen Form, die es ihm bei den Genossen und den ihnen anverwandten liberalen Gutmenschen angetan hat. Bisweilen überkommt ihn hier die kalte Wut, etwa wenn er die alte Nietzscheanische Unvereinbarkeit von Kultur und Sozialismus einmal mehr beschwört oder an die „linksalternativen Jungneuspießer“ appelliert, über der „müsliberauschten Morgenlektüre der Heimatzeitung taz“ die eigene Weiterbildung nicht zu vergessen: „Es wäre halt zu schön, wenn Linke, da sie, wie alle anderen auch, nun einmal stillos geboren werden, bei allem gleichzeitigen Betroffenheitsengagement sich im Laufe der Zeit und der momentan eher lautlosen Revolution etwas Stil anlesen, anhören, aneignen täten mögen.“

Es versteht sich von selbst, daß dieser gutgemeinte Appell bisher ungehört verhallte. Henscheid hat daraus seine Konsequenzen gezogen und „demokratische PC-Aufpasser“ sowie „grünökologische Gaunerfiguren“ einfach links liegengelassen. Unvollendet blieb daher leider eine Biographie, nämlich die geheime Lebensgeschichte des Karl Marx, aus der der Leser immerhin erfahren hätte, daß Marx Maoismus, Titoismus, Castrismus und andere „Abweichler“ (Engels) striktest ablehnte, vor allem aber schwer erschüttert war, als er endlich das geistige Niveau unter den Marxisten erkannte.

Henscheids genialische Erzählweise entsteht unter anderem durch geschickt und planmäßig aufgebaute Fallhöhen. Armin Mohler hat dies seinerzeit in einer Besprechung der Idylle „Maria Schnee“ zu Recht als „Verdichtung von Rohmaterial zu einer lebensfähigen Einheit“ bezeichnet. Und wie immer entscheidet auch hier der erste Satz über Qualität und Erfolg: „Feinster Bohnenkaffee, angezeigt auf einer silbernen Tafel im Fenster der Wirtschaft, war es vielleicht gewesen, was Hermann letzten Endes zur schließlichen Einkehr in die Pensionsgaststätte Hubmeier in der Entengasse bewogen und veranlaßt hatte, daß er dort seinen zumindest vorübergehenden Aufenthalt nehme.“

Einen „Wahrnehmungserotiker“ nannte Gustav Seibt die Hauptfigur Hermann in „Maria Schnee“. Viel mehr noch trifft dies auf den Autor zu. Am 14. September feiert Eckhard Henscheid seinen siebzigsten Geburtstag.

Foto: Eckhard Henscheid: „Es wäre halt zu schön, wenn Linke (…) sich etwas Stil anlesen, anhören, aneignen täten mögen“

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