© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Kardinal mit Zweifeln
Zweiter Weltkrieg: Mit Äußerungen zum Holocaust und deutschen Opferzahlen hat Günter Grass Irritationen ausgelöst
Thorsten Hinz

Die kleinen Aufgeregtheiten, die der fast 84jährige Günter Grass mit seinen Äußerungen in der israelischen Zeitung Haaretz über den Holocaust und die deutschen Opferzahlen ausgelöst hat, ergeben nichts Neues. Sie bestätigen den rasenden Stillstand, in dem das Land geistig verharrt, während es durcheinandergewirbelt wird.

Der Historiker Tom Segev, der das Interview anläßlich des Erscheinens von Grass’ Autobiographie „Beim Häuetn der Zwiebel“ in Israel führte, sorgt sich um den Fortbestand der bundesdeutschen Zwänge und Zwangsvorstellungen und examiniert den Literaturnobelpreisträger mit einer Schärfe, als hätte er einen dummen Jungen, zumindest aber Horst Mahler vor sich.

Dabei ist Segev das Gegenteil eines Scharfmachers. Offenbar trieb ihn die Furcht um, daß ein verändertes Selbstbild die Deutschen dazu verführen könnte, unter dem Eindruck des „arabischen Frühlings“ die Sonderbeziehungen zu Israel zu lösen und den anderen EU-Ländern ein Beispiel zu geben. Die Zivilreligion, die sich um die Singularität des Holocaust und das deutsche „Tätervolk“ rankt, bedeutet für den jüdischen Staat nun mal eine Lebensversicherung.

Grass fühlt sich mißverstanden, beschwichtigt und fährt trotzdem irgendwann aus der Haut. „Aber der Wahnsinn und die Verbrechen fanden nicht nur ihren Ausdruck im Holocaust und hörten nicht mit dem Kriegsende auf. Von acht Millionen deutschen Soldaten, die von den Russen gefangengenommen wurden, haben vielleicht zwei Millionen überlebt, und der ganze Rest wurde liquidiert. Es gab 14 Millionen Flüchtlinge in Deutschland, das halbe Land ging direkt von der Nazityrannei in die kommunistische Tyrannei. Ich sage das nicht, um das Gewicht der Verbrechen gegen die Juden zu vermindern, aber der Holocaust war nicht das einzige Verbrechen. Wir tragen die Verantwortung für die Verbrechen der Nazis, aber ihre Verbrechen fügten auch den Deutschen schlimme Katastrophen zu, und so wurden sie zu Opfern.“

Die Differenz zwischen acht und zwei ergibt sechs Millionen. Von der falschen Zahl abgesehen, bewegt Grass sich im Rahmen der BRD-Geschichtspolitik. Doch sein Tonfall läßt aufhorchen und veranlaßte den Historiker Peter Jahn, langjähriger Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, in der Süddeutschen Zeitung vom 1. September die Alarmglocke zu läuten: „Aber umstandslos den Mord an sechs Millionen Juden mit einem Phantasiebild von sechs Millionen liquidierten deutschen Kriegsgefangenen zu relativieren, ist – vor aller moralischen Bewertung – erklärungsbedürftig.“

Segev indes, nachdem Grass und das deutsche Presseecho seine Befürchtungen zerstreut hatten, reagierte mit Gelassenheit, ja mit Noblesse. Der Fehler sei ausschließlich ihm anzulasten, Grass habe nur „in der Hitze des Gefechts eine falsche Zahl genannt (...). Tatsächlich hätte ich ihn korrigieren müssen, und ich entschuldige mich dafür, das nicht getan zu haben.“

Und Grass? Die behaupteten „sechs Millionen“ sind eine Freudsche Fehlleistung, eine unbeabsichtige Offenbarung eines geheimen Gedankens beziehungsweise Antriebs. Er will keineswegs die sechs Millionen jüdischen Opfer bestreiten oder neutralisieren, wohl aber die Zivilreligion, deren Ausgangspunkt sie bilden und an deren Ausformung er intensiv mitgewirkt hat. Das brachte ihm höchste Anerkennung und Preise ein, auch international, denn die Fama vom universalschuldigen Deutschen gehört zu den „Großen Erzählungen“ des 20. Jahrhunderts. Gegen diese Erzählung rebelliert Grass schon seit längerem: verschämt, inkonsequent, doch immer wieder und aus der Einsicht heraus, daß sein Schicksal und das seiner Generation darin nicht aufgeht. Denn sie weist ihnen einen Platz jenseits der conditio humana, konkret: im Mülleimer der Geschichte zu. Der Schmerz darüber, sein Lebensthema – die Selbsterklärung seiner Generation! – verfehlt und sein Talent zu großen Teilen an dicke, dumme, überflüssige Bücher verschwendet zu haben, hat sich im Interview erneut Bahn gebrochen.

Der 70jährige Historiker Jahn, der seine Äußerung aufgepickt und skandalisiert hat, ist ein einfacher Arbeiter im Weinberg der Zivilreligion. Grass hingegen ist ein Kardinal, dessen Glaubenszweifel in den unteren Chargen natürlich für Irritationen sorgen. 1989 standen bereits die alten Genossen in der DDR vor der Frage: Es kann doch nicht alles verkehrt gewesen sein – oder doch?

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