© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/11 / 09. September 2011

Konkurrenz unterschiedlicher Nationsentwürfe
Eine Berliner Dissertation zum polnischen Nationalchauvinismus zwischen Staatsgründung 1919 und Beginn des Zweiten Weltkriegs
Karsten Wichmann

Die Frage nach der Verbreitung „rassistischer Ideen“ im wiedererstandenen polnischen Staat der Zwischenkrigszeit sei „in der Forschung“ noch nicht geklärt. Eine Feststellung, die sich im Schlußkapitel von Stephanie Zlochs Berliner Dissertation über den polnischen Nationalismus zwischen 1918 und 1939 findet. Und mit der die Verfasserin ihr Verdienst selbst ein wenig schmälert. Denn über den polnischen Nationalismus mitsamt seiner extremen rassenideologischen Ausformung kann sich der deutsche Leser heute nirgends gründlicher informieren als in ihrer bei Heinrich August Winkler entstandenen voluminösen, vorwiegend auf polnische Quellen gestützten Arbeit.

Dabei liegt ihr Schwergewicht allerdings nicht auf den außenpolitischen Aspirationen des polnischen Nationalismus. Das Buch will keinen Beitrag zur Geschichte der internationalen Politik sein, in der die selbsternannte „Großmacht“ Polen vor allem in den 1930er Jahren eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Die Verfasserin vernachlässigt selbst das innenpolitische Kampffeld, die Warschauer Minderheitenpolitik gegenüber Deutschen, Juden, Ukrainern und Litauern im polnischen „Vielvölkerstaat“, weil sie glaubt, dieses Terrain sei hinreichend gut erforscht. Trotzdem setzt sie hier einen eigenen Akzent, wenn sie, im Anschluß an jüngere Untersuchungen, dafür plädiert, nicht länger im Bann der einflußreichen Arbeit Hermann Rauschnings über „Die Entdeutschung Westpreußens und Posens“ (1930, Neuausgabe 1988) zu verharren, und damit die Vorstellung einer planmäßigen, repressiven, nationalistischen Politik der Austreibung zu tradieren.

Nach dem Motto „Es war gar nicht so schlimm“, ist Zloch in dieser Frage geneigt, polnischen Historikern zu folgen, die eine Unterdrückung der deutschen Minderheit damit bestreiten, daß sie auf die großen Abwanderungszahlen von 1919/20 verweisen, also auf den Auszug der Deutschen an Weichsel und Warthe vor Beginn administrativer Maßnahmen der Warschauer Minoritätenpolitik.

Etwas weniger zur „Relativierung“ neigend, aber insgesamt auffällig zurückhaltend, handelt die Winkler-Schülerin den polnischen Antijudaismus ab. Höchst aufschlußreich ist hier ihr Hinweis auf die Virulenz der Rede vom „jüdischen Bolschewismus“ während des polnisch-russischen Krieges (1919/20). Nur hätte man dazu gern mehr erfahren. Wegen der sich nicht nur in der Wahrnehmung des Bolschewismus artikulierenden Judenfeindschaft mußte sich der multiethnische Staat 1919 zwingen lassen, einen an den Versailler Friedensvertrag gekoppelten Vertrag zum Schutz der Minderheiten zu unterzeichnen. Jüdische Lobbyisten in London und New York hatten dies initiiert, nach antijüdischen Pogromen in der Anfangsphase des polnisch-sowjetischen Krieges.

Eingedämmt wurde der gegen Juden geführte Nationalitätenkampf per Gesetz nicht. Selbst in der katholischen Kirche Polens, gemeinhin als „Barriere gegen rassistische Vorstellungen“ angesehen, sei die „jüdische Frage“, so Zloch, „wohl stärker als bislang angenommen“ aus einem „rassistischen“ Blickwinkel betrachtet worden.Wichtiger als diese Konfrontationen, die Ende der 1930er wieder in offene Gewalt gegen Deutsche und Juden mündeten, ist Zloch die Erfassung des polnischen Nationalismus in seiner ganz Vielgestaltigkeit.

Unterschiede markiert sie in der  Wertung des Verhältnisses zwischen Nation und Demokratie. Die Überhöhung vormoderner sozialer und politischer Ordnungsvorstellungen, der Vorrang des nationalen Kollektivs vor den individuellen Entfaltungs- und demokratischen Partizipationsmöglichkeiten sei bei den rechtsextremen Nationaldemokraten am schärfsten ausgeprägt gewesen, habe aber keine rassentheoretisch fundierte biopolitische Utopie wie im deutschen Nationalsozialismus gezeigt.

Unübersehbar sei hingegen, daß die, ausgenommen die Kommunisten, allparteiliche Fixierung auf die Nation der Zweiten Republik einen antipluralistischen Stempel aufdrückte. Der marxistischen Historiographie der Volksrepublik Polen fiel es darum leicht, die 1926 in eine Militärdiktatur unter Marschall Józef Piłsudski transformierte Demokratie als „faschistisch“ zu denunzieren.

Die „Konkurrenz unterschiedlicher Nationsentwürfe“ ist jedoch Ende der 1930er Jahr kaum noch erkennbar. Nun wurde nicht länger von der Nation, sondern der „Kriegsnation“ ein Ausweg aus der innenpolitischen Malaise erwartet. 1938, während des Münchner Abkommens, von dem Polen profitierte, kam eine „nahezu euphorische Verehrung der Armee in der polnischen Öffentlichkeit“ auf. Der sich in die „Sehnsucht nach der Kriegsnation“ transformierende, sich „destruktiv radikalisierende“ Nationalismus schuf dann jene im Rückblick nur „fatal“ zu nennende Atmosphäre unter dem Akteur Marschall Edward Rydz-Śmigły im Krisenjahr 1939, als die polnische „Überschätzung der eigenen Stärke und Stellung als Großmacht“ triumphierte und „reale Gefahren“ ignorierte.

Stephanie Zloch: Polnischer Nationalismus. Politik und Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen. Böhlau Verlag, Köln 2010, gebunden, 631 Seiten, 64,90 Euro

Foto: Polnische Panzer besetzen tschechisches Olsa-Gebiet, Teschen 1938: Sehnsucht nach der Kriegsnation

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