© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/11 / 16. September 2011

„Zentralen Fragen hat sich der Senat entzogen“
Euro-Rettungsschirm: Für den Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek offenbart das Urteil des BVerfG vielfältige Probleme, bietet aber auch Chancen
Christian Vollradt / Moritz Schwarz

Herr Professor Murswiek, überwiegt bei Ihnen die Enttäuschung darüber, daß die Klage gegen die Milliardenhilfen für Griechenland und den Euro-Rettungsschirm abgewiesen wurde oder sehen Sie es als einen gewissen (Teil-)Erfolg an, daß das Verfassungsgericht betonte, es gebe keine „Blanko-Ermächtigung“?

Murswiek: Das Gericht hat einige Grenzen gezogen und deutlich gemacht, daß die Budgethoheit beim Bundestag bleiben muß und der Weg in eine Haftungsunion nicht einmal durch eine förmliche Vertragsänderung eröffnet wäre. Das ist ein wesentlicher Erfolg unserer Klage, wenngleich zu bedauern ist, daß die Grenzen nicht konkreter gezogen wurden. Und zentralen Fragen hat der Senat sich entzogen, indem er die entsprechenden Rügen als unzulässig zurückgewiesen hat.

Um welche zentralen Fragen handelt es sich?

Murswiek: Das gilt insbesondere für die skandalöse Verletzung der europäischen Währungsverfassung, deren Regeln geradezu in ihr Gegenteil umgestülpt worden sind, aber zum Beispiel auch für den Umstand, daß die deutschen Rettungseuropäer Steuergeld in Höhe von mehr als der Hälfte des Bundeshaushalts aufs Spiel setzen, um nicht etwa andere Staaten zu retten, wie immer behauptet wird, sondern um in Wirklichkeit Großbanken vor Verlusten zu bewahren. Sie retten ja nicht Griechenland, sondern europäische Großbanken und griechische Multimillionäre. Diese Pervertierung des Sozialstaatsprinzips und der Gemeinwohlbindung der öffentlichen Gewalt, diese Umverteilung von unten nach oben und diese privatnützige Verschiebung von Steuermilliarden, das hat den Senat leider nicht interessiert.

Welche Entscheidung haben Sie erwartet?

Murswiek: Das Gericht hätte Gewährleistungsübernahmen für die Schulden anderer Staaten nicht lediglich von der Zustimmung des Haushaltsausschusses, sondern von der Zustimmung des Plenums abhängig machen müssen. Vor allem aber hätte es angesichts der evidenten Unvereinbarkeit der „Rettungspolitik“ mit der europäischen Währungsverfassung – Verstoß gegen das Bail-out-Verbot – die Sache dem Europäischen Gerichtshof vorlegen und so den Versuch unternehmen müssen, die demokratisch nicht legitimierten Bail-out-Politik des EU-Rates und der EZB zu stoppen. Jetzt aber betont der Senat zwar, daß die „strikte Beachtung“ der stabilitätssichernden Normen der im Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) geregelten europäischen Währungsverfassung Voraussetzung für die demokratische Legitimation der Handlungen der EU-Organe sei, verschließt hingegen die Augen davor, daß Rat und EZB diese Normen gröblichst mißachten, indem er sich weigert, unsere diesbezüglichen Rügen überhaupt zu prüfen. Das gibt der Entscheidung etwas Abgehobenes, Realitätsfernes.

Eine Zustimmung zur Klage hätte die Euro-Politik von Bundesregierung und EU in größte Schwierigkeiten gebracht. Hat sich Karlsruhe nicht unterschwellig dem immanenten politischen Druck, der auf der Frage lastet, gebeugt?

Murswiek: Das könnte man so deuten.

Hat sich Karlsruhe in Wahrheit vor einer echten Entscheidung gedrückt, wenn es außer acht ließ, daß die finanziellen Garantien der Euro-Rettung den Bundeshaushalt sprengen würden?

Murswiek: Das Gericht hat im Ansatz zutreffend der Politik einen Einschätzungsspielraum gegeben, ist dabei freilich meiner Ansicht nach zu weit gegangen.

Wieviel Potential steckt in dieser Einschränkung für den weiteren Kampf der Euro-Kritiker gegen den künftigen dauerhaften Rettungsschirm?

Murswiek: Das kommt natürlich darauf an, wie dieser aussehen wird. Die Vorschläge in der politischen Diskussion überschlagen sich ja. Wir haben noch nicht einmal eine amtliche Übersetzung des ESM-Vertrages (Europäischer Stabilitätsmechanismus), da fokussiert sich die Diskussion schon auf das noch viel weitergehende Haftungsmodell der Euro-Bonds. Für Euro-Bonds – also Staatsanleihen, die von einer europäischen Institution oder gar von einzelnen Euro-Staaten emittiert werden und für die dann alle Staaten haften – bedeutet das „Rettungsschirm-Urteil“ das verfassungsrechtliche Aus. Im Hinblick darauf, daß die aktuelle politische Diskussion immer nachdrücklicher in Richtung auf Euro-Bonds und damit auf eine Haftungsunion gedrängt hat, ist dies ein wichtiges Ergebnis.

Das heißt?

Murswiek: Jeder, der jetzt noch diese Forderung erhebt, muß wissen, daß er damit in Karlsruhe scheitern wird. Auch jeder sonstige Haftungsautomatismus ist nach dem Urteil ausgeschlossen. Was aus dem Urteil für den geplanten ESM folgt, wird noch genau zu prüfen sein und läßt sich definitiv erst beurteilen, wenn alle entsprechenden Gesetzentwürfe vorliegen.

Karlsruhe hat zudem klargemacht, daß es nicht nur eine Obergrenze für Euro-Rettungsausgaben gibt – so dürfen künftige Generationen dadurch nicht ihre politische Handlungsfreiheit verlieren –, auch, daß die Vergemeinschaftung von Staatsschulden von EU-Mitgliedsländern unzulässig ist – ist das eigentlich nicht ein K.o.-Kriterium für den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM, über den im Dezember entschieden wird?

Murswiek: Das ist nicht so einfach zu beantworten. Hinsichtlich des ESM möchte ich nicht vorschnell Hoffnungen wecken, aber andererseits auch nicht vorschnell resignieren. Zunächst wird dem ESM mit einer Änderung der europäischen Währungsverfassung der Boden bereitet. Daher stellt sich zunächst die Frage, ob die geplante Vertragsänderung mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Immerhin setzt das Urteil, wie gesagt, der Vertragsänderung Grenzen. Was daraus für die jetzt geplante Vertragsänderung folgt, werden wir noch eingehend analysieren müssen. Und hinsichtlich des ESM-Vertrages werde ich noch sehr gründlich untersuchen, ob er Haftungsautomatismen oder andere Regelungen enthält, die mit den jetzt vom Bundesverfassungsgericht formulierten Kriterien unvereinbar sind.

Um welche Regelungen könnte es sich handeln?

Murswiek: Was man jetzt bereits sagen kann: Der Vertrag ist jedenfalls dann verfassungswidrig, wenn er nicht ergänzt wird durch ein Begleitgesetz, das sicherstellt, daß in zentralen Fragen das deutsche Mitglied im Gouverneursrat des ESM nur im Einvernehmen mit dem Bundestag seine Stimme abgeben darf.

Das Gericht hat zur Auflage gemacht, daß in Zukunft der Bundestag, zumindest aber der Haushaltsausschuß beteiligt werden muß. Kann man das als eine Kritik an der Bundesregierung lesen, daß sie sich bisher in Sachen Rettungsschirm nicht so und also eigentlich verfassungswidrig verhalten hat?

Murswiek: Ja, eindeutig – allerdings richtet sich dieser Vorwurf auch an den Gesetzgeber selbst, der ja unter Verzicht auf seine unverzichtbaren verfassungsmäßigen Rechte die Bundesregierung zur Entscheidung über konkrete Gewährleistungsübernahmen ermächtigt hatte. Dieses Gesetz ist so, wie es beschlossen wurde, mit dem Demokratieprinzip unvereinbar und verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat es dadurch gerettet, daß es der die Parlamentsbeteiligung betreffenden Vorschrift eine mit ihrem Wortlaut unvereinbare „Auslegung“ gegeben hat. Das Gesetz schreibt nur die „Anhörung“ des Haushaltsausschusses vor – also kann die Regierung auch gegen das Votum des Ausschusses entscheiden. Das Gericht sagt dagegen, die Vorschrift sei nur dann mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn man sie so auslegt, daß die Regierung nicht ohne Zustimmung des Ausschusses entscheiden darf. Wir haben uns in diesem Punkt mit unserer Klage durchgesetzt und ein Stück Demokratie gerettet.

 

Dauerhafter Euro-Rettungsschirm

Mitte Dezember 2010 beschloß der EU-Gipfel, den bisherigen zeitlich begrenzten Euro-Rettungsschirm (EFSF) auslaufen zu lassen. Über dessen aktuelle Aufstockung stimmt jedoch der Bundestag noch am 23. September ab. Dieser wird dann im Dezember über das EFSF-Nachfolgeprojekt, den Euro-Rettungsfonds „Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM)“, abstimmen. Er soll ab Juli 2013 zu einer dauerhaften Einrichtung werden und dann „einem Mitgliedstaat finanzielle Unterstützung gewähren, wenn dessen regulärer Zugang zur Finanzierung über den Markt beeinträchtigt ist“, heißt es im Entwurf. Der ESM übernimmt also die Staatsfinanzierung, wenn der betreffende Staat als eingeschränkt oder völlig kreditunwürdig angesehen wird. Die Ersteinlage des ESM beträgt 80 Milliarden Euro. Entsprechend seines Anteiles beteiligt sich Deutschland mit knapp 22 Milliarden Euro . Die Einzahlung soll ab 2013 über mehrere Jahre erfolgen. An abrufbarem Kapital wird Deutschland Garantien in Höhe von 168,3 Milliarden Euro bereithalten müssen. Parallel dazu kann der EZB-Gouverneursrat das Grundkapital und das Ausleihvolumen jederzeit bei Bedarf erhöhen.

 

Prof. Dr. Dietrich Murswiek war Verfasser und Prozeßbevollmächtigter der Verfassungsklage Peter Gauweilers gegen den sogenannten EU-Rettungsschirm. Der renommierte Fachmann für Völker-, Verfassungs- und Umweltrecht berät immer wieder Abgeordnete der CDU/CSU in staats- und völkerrechtlichen Fragen, hat aber auch schon für Grüne und ÖDP Gutachten erstellt und diese vor Gericht vertreten.

www.dietrich-murswiek.de

Foto: Zweiter Senat des Bundesverfassungsgerichts: Udo Di Fabio, Andreas Voßkuhle, Rudolf Mellinghoff, Michael Gerhardt, Peter Huber (v.l.) bei der Urteilsverkündung am 7. September

 

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