© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/11 / 16. September 2011

Heillos überfordert
Dröhnendes Schweigen: Deutschlands Dichter und Denker kapitulieren vor der Unübersichtlichkeit
Ansgar Lange

Ein Schriftsteller sollte sich nicht scheuen, sich die Hände schmutzig zu machen, sich hineinzuknien, mitzumischen in der politischen Debatte der Demokratie, Schlagwörter durch Ideen zu ersetzen, bleibenden Sinn statt flüchtiger Aktualitäten zu suchen, die Sprache zu klären, dem Wesentlichen der menschlichen Existenz nachzuspüren.“

In dieser etwas altmodischen Weise hat der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa kürzlich im Spiegel die Rolle des Intellektuellen beschrieben. Nicht nur unter Lateinamerikas meist linken Autoren gilt Llosa als Außenseiter. Auch in Deutschland dürfte es wenige Intellektuelle geben, die sich selbst als liberale Demokraten im klassischen Sinne definieren und scharf von linken Ansichten abgrenzen.

Nach Ansicht Vargas Llosas kommt die wirtschaftliche Freiheit zwar zuletzt, dennoch hält er die freie Marktwirtschaft für „die beste und einzige Weise, den Wohlstand der Nationen zu mehren“. Nur sehr wenige deutsche Schriftsteller dürften diese Ansicht teilen und den Philosophen Karl Popper als ihr intellektuelles Erweckungserlebnis bezeichnen.

Offenbar haben Deutschlands „Dichter und Denker“ beispielsweise zur Atom-Debatte, dem „arabischen Frühling“, dem Aufstieg Chinas und dem Niedergang der Vereinigten Staaten oder auch der aktuellen Euro-Krise recht wenig zu sagen. Dies kann mehrere Gründe haben. In der heutigen Mediendemokratie haben sie es zusehends schwer, mit ihrer Meinung durchzudringen. Das Monopol der Printmedien und der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist gebrochen. Mehr oder minder intellektuelle Debatten finden zunehmend im Internet oder auch in den um sich selbst kreisenden Quasselbuden der Talkshows statt.

Die alte Stärke der Intellektuellen war weniger ihr Expertenwissen, sondern der Verweis auf eine angeblich höhere Moral, in deren Namen sie zu sprechen vorgaben. Den komplizierten Fragen der Gegenwart ist aber mit Moral oft nicht beizukommen. Gefragt ist Spezialwissen. Und über dieses verfügen sie nicht. Selbst die Politik hat ja ihre Deutungshoheit an anonyme Mächte abgegeben, die in Nachrichtensendungen als „die Märkte“ fungieren. Sie haben keinen festen Wohnsitz und kein Gesicht. Die „Märkte“ schreiben keine Bücher und haben auch keinen beeindruckenden Lebenslauf, doch trotzdem laufen ihnen viele wie die Lemminge hinterher. Politiker und Intellektuelle sind von den Krisen an den Finanzmärkten überfordert. Sie durchschauen die Thematik nicht mehr, auch wenn die politische Klasse den Eindruck zu erwecken sucht, daß sie noch wisse, was sie tut.

Lange Zeit waren alte graue Wölfe wie Günter Grass oder Martin Walser die Hüter vermeintlicher höherer Einsichten. Junge Meinungsmacher unter den deutschen Intellektuellen konnten sich gegen die Generation der „Gruppe 47“ lange Zeit nicht durchsetzen. Doch was haben uns ein Grass oder Walser schon zu Fragen der Nutzung der Atomenergie oder zum Spekulantentum der Finanzmärkte zu sagen? Auch die Entwicklung in der islamischen Welt ist an ihnen vorbeigegangen.

Nicht ohne Grund trug ein Essay in der Wochenzeitung Die Zeit die Überschrift „Wo sind die Intellektuellen hin?“ Der Autor Stephan Moebius machte eine Sehnsucht nicht nur nach Experten aus, „sondern nach engagierten Intellektuellen, die ihr Expertentum und ihre intellektuelle Tätigkeit mit Moralvorstellungen verbinden“. Der immer hektischere Tagesjournalismus ist nicht in der Lage, aktuelle Ereignisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen und eine klare Linie vorzugeben. Er will oft nur die sprichwörtliche Sau durchs Dorf hetzen. Heute ist die Schweinegrippe dran, morgen Fukushima und übermorgen Afghanistan. Zwischendurch brechen Finanz- und Wirtschaftskrisen aus. Bedrohliche demographische Entwicklungen in vielen westlichen Ländern und massive Probleme bei der Integration von zugewanderten und kulturfremden Ausländern verlangen nach Antworten.

Doch eins ist klar: Die Intellektuellen bestechen nur durch ihr dröhnendes Schweigen, durch ihre Ahnungslosigkeit und Hilflosigkeit. Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Moebius sieht höchstens noch Medienintellektuelle am Werk und nennt als Beispiele Peter Slo-
terdijk, Norbert Bolz oder Arnulf Baring. Wesentliche Merkmale des klassischen Intellektuellen träfen auf sie nicht mehr zu. Für sie sei der Maßstab in erster Linie die Prominenz, die durch Auftritte im Fernsehen und sonstige Medienpräsenz erworben worden sei. Ein klassischer Intellektueller reklamiert hingegen einen gesellschaftlichen Stellvertretungsanspruch und tritt mit radikaler Herrschaftskritik hervor. Als Vertreter dieses Typs kann Jürgen Habermas gelten, der mit seinen Einwürfen zur Europa-Politik immer wieder von sich reden macht, auch wenn sie inhaltlich falsch sind.

In einem Themenheft der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte über die Intellektuellen war zu lesen, sie hätten in Deutschland selten einen guten Ruf gehabt. Mittlerweile haben sie gar keinen Ruf mehr – weder einen guten noch einen schlechten. Sie sind nichtig geworden. Mit einem flammenden „J’accuse“ ist den Turbulenzen an den Märkten eben nicht beizukommen.

Der intellektuelle Lautsprecher Klaus Staeck beklagt das mangelnde Engagement seiner Kollegen: „Ich glaube, es ist ein generelles Sichzurückziehen aus der Politik. (…) Die meisten haben sich das Politische abtrainiert oder abtrainieren lassen, es ist auch nicht unbedingt feuilletonkompatibel, wenn man ständig seine politische Meinung vor sich herträgt, dann gilt das auch als unkünstlerisch.“

Auch Intellektuelle sind also letztlich Sklaven der Märkte. Sie halten sich mit politischen Aussagen zurück, da sie augenscheinlich nicht mehr so gefragt sind. Früher konnte ein Grass mit moralinsauren Beiträgen in der linksliberalen Presse den eigenen Marktwert steigern. Heute ist dies nicht mehr so.

Auch wenn man einwenden könnte, daß ein Handwerksmeister nichts von Gentechnik verstehen muß, wünscht man sich zuweilen die (angemaßte) Allzuständigkeit der Intellektuellen zurück. Angesichts der gesichts- und identitätslosen Arroganz der Banker, Börsianer und der „Märkte“ sehnen sich manche nach den wortmächtigen Intellektuellen „alten Schlags“, die über eine eigene Meinung verfügten, ob man sie nun Vision, Utopie oder Weltanschauung nennt.

Doch diese Zeiten kommen nicht zurück. Seelenlose Eurokraten haben die Lust an der Debatte mit ihren Ener-giesparlampen und alternativlosen Rettungsschirmen erstickt.

Foto: Neue Unübersichtlichkeit: Ob Atom-Debatte oder Euro-Krise – den komplizierten Fragen der Gegenwart ist mit Moral oft nicht beizukommen

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