© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/11 / 16. September 2011

Die Mitgift des Bösen
Herr der Fliegen: Das Werk des englischen Schriftstellers William Golding ist von einem skeptischen Menschenbild geprägt
Heinz-Joachim Müllenbrock

Der am 19. September 1911 geborene William Golding kann als der große Außenseiter der englischen Gegenwartsliteratur bezeichnet werden. Zum einschneidenden existentiellen Erlebnis wurde seine Teilnahme als Marinesoldat am Zweiten Weltkrieg – Golding war sowohl beim Untergang der „Bismarck“ als auch bei der Landung der Alliierten in der Normandie dabei –, die ihm zu Bewußtsein brachte, was Menschen einander antun können. Die Erfahrungen des Krieges führten Golding, der zuvor noch an die Vervollkommnung des Menschen als Gesellschaftswesen geglaubt hatte, zu der Einsicht, „daß der Mensch Böses hervorbringt wie die Biene Honig“. Den literarischen Niederschlag dieser desillusionierenden Erkenntnis bietet sein 1954 erschienener Roman „Lord of the Flies“ (dt. „Herr der Fliegen“), der Golding den Durchbruch als Autor brachte und ein Welterfolg wurde.

Die bloßen Handlungskonturen lassen den beachtlichen Tiefgang dieser eher bescheiden anmutenden Erzählung nur ansatzweise erahnen. Eine Gruppe sechs- bis zwölfjähriger englischer Schuljungen strandet auf einer unbewohnten Insel im Pazifik. Nachdem die Jungen zunächst unter Anleitung des besonnenen Ralph eine gewisse, quasi demokratische Ordnung aufrechterhalten haben, spaltet sich bald unter Anführung des skrupellosen Jack eine eigene Wege gehende Gruppe ab.

Diese als Jäger bezeichneten Jungen weichen immer mehr von den Normen zivilisierten Lebens ab, entwickeln, durch die dunkle Instinkte freisetzende Ausübung der Jagd in einen Blutrausch versetzt, eine barbarische Versessenheit aufs Töten und verwandeln die in Brand gesteckte Insel in ein Inferno. Peter Brooks Verfilmung von 1963 macht die Verwandlung der Jungen in eine Horde von Wilden sichtbar. Schließlich werden die Jungen vor völliger Selbstzerstörung nur durch das Auftauchen eines britischen Marineoffiziers bewahrt.

Trotz ihrer unprätentiösen Aufmachung gibt die Geschichte ihren ehrgeizigen Anspruch früh zu erkennen. Schon kurz nach ihrer Ankunft ruft nämlich einer der von der exotischen Natur beeindruckten Jungen begeistert aus: „‘Coral Island’“. Dieses intertextuelle Signal verweist unmißverständlich zurück auf Robert Michael Ballantynes viktorianische Robinsonade „The Coral Island“ (1858), die Golding pointiert umschreibt. „Lord of the Flies“ ist die erste voll ausgebildete Antirobinsonade. Der Autor schließt in revisionistischer Absicht an die Gattung der Robinsonade an, die namentlich im Aufkärungszeitalter, wie Daniel Defoes eponymer Roman „Robinson Crusoe“ (1719) belegt, der geistigen, insbesondere der sozialen Standortbestimmung des Menschen gedient hatte.

Auch „Lord of the Flies“ versteht sich als literarische Anthropologie im Sinne einer dezidierten Absage an überkommene optimistische Erwartungen. Während bei Ballantyne drei Jungen die, um mit Kipling zu sprechen, Bürde des weißen Mannes pflichteifrig auf sich nehmen und sich wie Gentlemen zueinander verhalten, zeigen sich Goldings teilweise dieselben Namen tragenden Jungen außerstande, die Ausnahmesituation auf Dauer zu meistern.

Und während in „The Coral Island“ der zivilisatorische Prozeß durch Wilde oder Piraten, also von außen bedroht wird, verlegt Golding die Herkunft des Bösen in das Innere seiner jungen Landsleute. Die Skepsis von Goldings Menschenbild erhält ihre Schärfe dadurch, daß in „Lord of the Flies“ Kinder – in der traditionellen Jugendrobinsonade die Verkörperung von Unschuld – das Böse in sich tragen.

Obwohl „Lord of the Flies“ die radikale Antithese zu Ballantynes den Kolonialismus verbrämender Version der Robinsonade darstellt, handelt es sich bei Goldings Roman keineswegs um ein antiimperialistisches Manifest. Der Anspruch des Autors greift tiefer und richtet sich auf allgemein menschliche Defizite. Die wichtigste Leistung von „Lord of the Flies“ besteht darin, veranschaulicht zu haben, wie dünn der Firnis unserer Zivilisation ist, der offensichtlich nur ungenügenden Schutz gegenüber der angeborenen Brutalität des Menschen bietet. Golding hat mehrfach betont, daß alle Länder und Kulturen ein solches Gefahrenpotential in sich bergen. Das „Oxford Dictionary of National Biography“ vermerkt, daß „Lord of the Flies“ sehr wahrscheinlich nicht geschrieben worden wäre, wenn es Bergen Belsen und Auschwitz nicht gegeben hätte und wenn Dresden von den Alliierten nicht bombardiert worden wäre.

In „Lord of the Flies“ – der Titel des Buches ist eine wörtliche Übersetzung des hebräischen Begriffs Beelzebub, also Herr der Fliegen – symbolisiert der aufgespießte Schweinskopf, den die Jäger einem sie vermeintlich bedrohenden ‚Untier’ zum Opfer darbringen, das Böse. Im Angesicht des widerwärtigen, von Fliegen umschwirrten Schweinskopfes erkennt der als Märtyrer endende Simon, daß der Mensch selber das Untier ist, eine gefallene Kreatur.

Der gefallene Mensch ist auch das Thema von Goldings prähistorischer Erzählung „The Inheritors“ (1955). Sie verfolgt das Böse bis auf seine Ursprünge zurück. Während es in „Lord of the Flies“ in einem modernen Kontext verankert ist – im Hintergrund tobt ein verheerender Atomkrieg –, tritt es in „The Inheritors“ in seiner uranfänglichen Gestalt in Erscheinung. Und während Golding in „Lord of the Flies“ eine traditionell fortschrittsgerichtete literarische Gattung konterkariert, macht er sich in „The Inheritors“ zum Antipoden des prominentesten Fortschrittsapostels der angelsächsischen Welt im 20. Jahrhundert.

Wie „Lord of the Flies“ Ballantynes „The Coral Island“ umschreibt, so invertiert „The Inheritors“ nämlich H.G. Wells’ Kurzgeschichte „The Grisly Folk“ (1921). In beiden Fällen äußert sich Goldings antiprogressive Skepsis in demonstrativer Provokationsabsicht. Während „Lord of the Flies“ Kinder zur Verkörperung des Bösen werden läßt, werden in „The Inheritors“ Neandertaler zu unschuldigen Opfern des nachdrängenden gewalttätigen Homo sapiens. Wie der ironisch gemeinte Titel impliziert, wird die Erde nicht den Sanftmütigen, sondern deren Mördern gehören; die Morgenröte des Menschengeschlechts ist blutgefärbt.

Goldings Auseinandersetzung mit Wells ist aber keine reine Kopfangelegenheit. Trotz der gezielten Reprise von Wells’ Erzählung, dessen abschätzige Bemerkungen über die Neandertaler aus „The Outline of History“ (1920) Golding schon im Vorspann zitiert, gewinnt „The Inheritors“ seine besondere Qualität dadurch, daß der Autor sich mittels eines kühnen literarischen Experiments in die Lage der des Räsonierens nicht fähigen Neandertaler versetzt, was Wells in „The Grisly Folk“ für unmöglich erklärt hatte. Das chthonische Lebensgefühl der Neandertaler teilt sich dem Leser insbesondere aus der Perspektive des naiven Lok mit. Aufgrund dieser konsequenten Empathie nimmt die schließliche Überwältigung durch die mit Verstandeskräften begabten und schon über rudimentäre „technologische“ Fertigkeiten verfügenden Neuen Menschen tragische Züge an. So vermag Golding zu zeigen, daß geschichtlicher Fortschritt immer Gewinn und Verlust einschließt. Anders als seinerzeit der katholische Autor Hilaire Belloc polemisiert Golding nicht gegen Wells’ Grundprinzip der Evolution des Menschen aus primitiven Ursprüngen, sondern nur gegen Wells’ Annahme einer von Sprüngen und Krisen freien Entwicklung.

Von der bitteren Einzelrobinsonade „Pincher Martin“ (1956) an hat Golding sein Generalthema, die Mitgift des Bösen im Menschen, stärker von einer kollektiven auf eine individuelle Ebene verlagert. In seiner herben, religiös fundierten Darstellung der Situation des Menschen spielt nicht einmal das heilsgeschichtliche Ereignis der Erlösung durch den Tod Jesu Christi eine die negative Bilanz aufbessernde Rolle.

Golding, dem 1983 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, ist in der Literaturszene Großbritanniens ein unbequemer Solitär geblieben. Seine Distanz zu aktuellen Problemen der britischen Gesellschaft war der Popularität bei den Zeitgenossen nicht förderlich. Goldings religiös inspirierte Zivilisationskritik legt die inhärenten Schwächen des Menschen illusionslos bloß und vermittelt die bleibende Erkenntnis – und das ist kein geringes Verdienst angesichts eines oberflächlich gestimmten Zeitgeistes –, daß die menschliche Gesellschaft nicht durch Sozialingenieure zu perfektionieren ist.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über William Makepeace Thackeray (JF 29 /11).

Foto: William Golding wird am 10. Dezember 1983 in Stockholm mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet: Unbequemer Solitär

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