© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/11 / 16. September 2011

Streiter gegen den Emanzipationswahn des Neuen Menschen
Der Philosoph Steffen Dietzsch verweist in seinen „Gedankenexperimenten“ auf die Gefahren der Verheißungen des 20. Jahrhunderts
Harald Seubert

Steffen Dietzsch, der schon in der DDR ein eindrucksvolles philosophisches Œuvre vorzulegen begonnen hatte und heute in Leipzig und Berlin lehrt, überdies das Kondylis-Institut für Kulturanalyse und Alterationsforschung (Kondiaf) in Hagen leitet, ist ein souveräner Selbstdenker, unabhängig von Moden und Tendenzen. Er hat Mut zu den großen Fragen, Spekulation und Aufklärung sind bei ihm keineswegs Widersprüche.

Dietzsch legte letztes Jahr einen schmalen, aber gehaltvollen Band vor, der im Sinne Nietzsches die „Leuchtkraft starker Gegenbegriffe“ und von Lebensparadoxien durchmißt. Eine eindrucksvolle Variation auf die Grundspannung von Glaube und Vernunft zeigt Dietzsch bereits im ersten Aufsatz. Er expliziert im Zeichen des Todes Gottes die christomorphe Verfassung der Wirklichkeit und zeigt von hier her, in Aktualisierung der besten Hegelschen oder Schellingschen Tradition, wie der christliche Glutkern in eine starke, aber nicht hypertrophe Vernunft zu übersetzen ist.

Wie reagiert man auf eine Katastrophe, nach der überlieferte Weltbilder zerbrechen mußten? Dieser Frage geht Dietzsch im synkritischen Blick auf den Rekonstrukteur Lissabons nach dem epochalen Erdbeben von 1755 Pombal und auf Kants Vernunftkritik nach, die gleichfalls mit viel Gewinn als eine Reaktion auf den irresistiblen Kollaps zu lesen ist. Die Studien über Erinnern, Vergessen und das Archiv sind eine kleine Geschichtsphilosophie am Ende des verirrten und verwirrenden 20. Jahrhunderts; während mit Karl Rosenkranz eines heute weitgehend vergessenen eigenständigen Philosophen gedacht wird, der für die Entdeckung und Genese des „deutschen Idealismus“ von zentraler Bedeutung ist. Auch er ein Geist der Erinnerung. Lethe und Mnemosyne müssen, so Dietzsch in der Folge Nietzsches, in einem spannungsreichen Vermittlungsverhältnis zueinander gesehen werden.

Dissidenten, deutsch-jüdische Denker wie Karl Joël, aber auch der aristokratische Ironiker Oscar Levy, der gegen viele Widerstände in einer 18bändigen Ausgabe Nietzsche in England präsent machte, werden mit sicherem Blick auf das Essentielle ihres geistigen Vermächtnisses hin portraitiert. Die Wiedervergegenwärtigung von Joëls gelungenem Versuch, die Tiefenstrukturen der Nietzscheschen Philosophie mit der Romantik in Verbindung zu bringen, ist ein besonderes Glanzstück. Levy, der auf die politischen Verhältnisse im Europa seiner Zeit mit einer Art von ethnologischem Blick sah, ist ein weiteres glänzendes Beispiel für jüdischen Nietzscheanismus, im Sinne von Max Brods: „Es ist also gleichsam die Aufgabe der Juden: unter den Deutschen Nietzsche zu propagieren.“ Antiegalitärer aristokratischer Radikalismus wird Levys Kennzeichen. Eine besondere Trouvaille ist sein Open Letter von 1938, in dem er Hitler aus der Nietzsche-Gemeinde expatriiert.

Die Genealogie des Schreckens der sowjetischen Säuberungsprozesse und der damit einhergehende massenhafte „Verrat der Intellektuellen“ ist ein weiteres zentrales Thema Dietzschschen Philosophierens. Er zeigt die erschreckende Differenz zwischen der anthropologischen Vernichtungsbilanz der Oktoberrevolution und ihrem geschichtsphilosophischen Koordinatennetz. Das Opfer, zunächst das Selbstopfer nach innen, dann die Exekution des revolutionären Standpunktes, war die zentrale Achse – und die europäische Intellektuellenwelt sah stumm, nicht selten sogar bewundernd zu. Wieder fraß die Revolution ihre Kinder. Stalin brachte fertig, was niemand vermutet hatte, seine eigenen früheren Gefährten auszulöschen. Dietzsch erinnert auch an das fast vergessene Buch über den russischen General Blücher und die bleierne Zeit zwanzig Jahre nach der Revolution.

Hier liegen Ansätze einer Philosophie des Totalitarismus, die der Autor vielleicht einmal schreiben wird. In jedem Fall plädiert Dietzsch dafür, daß jeder Totalitarismus in seiner Individualität zu verstehen ist. Mit einem Blick auf Ernst Jünger rundet sich die Komposition des Bandes: er faßt, wie Dietzsch zeigt, den Menschen als endlich-unendliches Wesen auf und beschreibe eben damit eine immanent kenotische Struktur. Dies ist die gekonnte Skizze einer Anthropologie vor der Frontstellung des unerhörten historischen Ereignisses, im Zeichen einer Selbsttranszendenz.

Dies zeigt sich freilich nur einem Blick, der alle ideologischen Prägungen hinter sich gelassen hat. Dietzsch nimmt auch im Blick auf diese Confessio eine Formulierung von Ernst Jünger auf: „daß in den gleichen Graden, in denen die Gefahr sich näherte, sein Wesen sich erheiterte und stärker leuchtete“. Auf jeder Seite ist es bemerkenswert, wie Dietzsch Beiträge zu einer hellen klarsichtigen Aufklärung dem Emanzipationswahn des Neuen Menschen entgegensetzt. Er bringt Zwischenwelten der Geschichte der Moderne wieder zum Tragen, die für deren Verständnis oftmals mehr beitragen als der Mainstream.

Dietzschs schönes Buch, das hohen Anspruch mit einer plastischen, allem Jargon abgeneigten Darstellungsweise souverän verbindet, ist eine Anleitung für freie Geister: ein Denk- und Gedankenbuch, und es enthält Einsichten, die aus dem eisernen Gehege des 20. Jahrhunderts, dessen Schatten noch lang ist, ins Freie treten lassen: man kann ihm gar nicht genug aufmerksame Leser wünschen.

Steffen Dietzsch: Wandel der Welt. Gedankenexperimente. Manutius Verlag, Heidelberg 2010, gebunden, 334 Seiten, 22 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen