© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/11 / 16. September 2011

Radlust
Der Spreeradweg lockt gestreßte Hauptstädter zur Entdeckungstour durch die Mark Brandenburg und die Lausitz
Heino Bosselmann

Das Rad blitzt. Ein paar Tage Urlaub oder ein freies Wochenende und los geht es. Der Spreeradweg bietet gestreßten Hauptstädtern alles, was sie brauchen, um seelisch durchzulüften – 410 Kilometer Natur pur quer durch Mark und Lausitz, dazu jede Menge Geschichte. Zunächst die jüngere: Unwillkürlich denkt man an Gerhart Hauptmann und seine bedrückende Novelle „Bahnwärter Thiel“, als in Erkner ein Zug vorbeidonnert. Bei Briesen versteckt sich hinter einem dichten Kiefernwald ein Forsthaus – heute „Naturfreundehaus“–, das frühere „Objekt 74“ des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Ein Ort, an dem RAF-Terroristen erst an Sprengtechnik ausgebildet wurden, bevor man ihnen nach späterer Flucht eine DDR-Identität verpaßte, mit der sie erst nach der Wende aufflogen.

Die Kellerbar, in der Stasi-Offiziere mit Westterroristen bei Nordhäuser Korn und Radeberger über Strategien diskutierten, ist erhalten, im original realsozialistischen Holzpaneelencharme. Sogar die Killer „Carlos“ und „Abu Nidal“ könnten hier ein paar Wurzener Erdnußflips genascht haben. Und draußen fließt friedlich die Spree in der Landschaft des alten Bistums Lebus.

Beeskow liegt gute 140 Pedalkilometer entfernt von Berlin. Schon im Mittelalter gehörte es zur Niederlausitz, die Markgrafen Brandenburgs wurden durch die böhmische Krone belehnt. Das Land kommt einem Richtung Südosten lieblicher vor, weniger bestimmt durch Monokulturen, eher von Wiesen und Weiden. Lausitz, abgeleitet vom sorbischen Luzica, heißt Sumpfland. Aber jetzt stehen Divisionen preußischer Kiefern in Reih und Glied.

Stromabwärts der Spreewald sieht mit seinen zahlreichen Flußarmen und Kanälen, mit Mooren und Auen immer noch aus wie ein sorbisches Märchenland, modernisierungsvergessen, nur an den Lübbenauer Anlegestellen von Touristen geflutet.

Die 60.000 Sorben, einzig verbliebene elbslawische Kultur, in der DDR einerseits vereinnahmt, andererseits durch das Wegbaggern zahlreicher Dörfer bedroht, ließen sich keinesfalls artig gleichschalten, sondern strebten die Rettung ihrer slawischen Identität nach 1945 unter anderem durch Anschlußpläne an die Tschechoslowakei an. Neben der später von der SED dirigierten „Domowina“ gab es einen in Prag ansässigen Sorbischen Nationalausschuß, der 1946 sogar die Teilnahme am Belgrader Allslawischen Kongreß organisierte.

An Cottbus und Schwarze Pumpe geht es vorbei in Richtung Spremberg. Trauriger Ort, kriegszerstört, wendegeschädigt. Rentner und arbeitslose junge Frauen vor einem „Back-Shop“. Bonjour Tristesse. Der Abschied auf dem Drahtesel fällt leicht.

Gerade noch in verträumten Dörfern unterwegs, sieht man sich unvermittelt den Kühltürmen von Boxberg gegenüber, dem einst größten Kohlekraftwerk der DDR, mit dem jetzt Vattenfall Strom produziert. Daneben der Bärwalder See, ein gefluteter Tagebau in kahler Landschaft, heute größtes Gewässer Sachsens. 136 Lausitzer Orte verschwanden unter künstlichen Seen und Halden.

Der Weg nach Bautzen hinein führt am „Gelben Elend“ vorbei. Schriftsteller wie Walter Kempowski und Erich Loest saßen in dem berüchtigten Zuchthaus ein. Ansonsten vermittelt die Stadt Impressionen wie aus historischen Filmen. Die Wende und die Deutsche Einheit retteten ein kleinstädtisches Idyll vor dem Verfall. Man steht an der hohen Stadtmauer, sieht die zahlreichen Türme und staunt. Schon sprudelt die Spree wie ein kleiner Gebirgsfluß vorbei.

Oberlausitzer Bergland. Endlich Höhenmeter auf dem Böhmischen Steig, dem alten Handelsweg an der Grenze zu Tschechien. Ganz plötzlich steht man in Neugersdorf unter einem eisernen Pavillon an der Stelle, die General von Moltke als offizielle Quelle der Spree festlegte. Ohne Fontäne. Was für ein Reichtum denkt man, während über einem die Urlaubsflieger den Himmel schraffieren.

Foto: Natur pur auf dem Spreeradweg: Radwanderer müssen auf dem über 400 Kilometer langen Weg von Berlin bis zur Quelle mächtig in die Pedale treten und insgesamt 478 Höhenmeter überwinden

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