© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/11 / 23. September 2011

Als die Linke noch nicht antideutsch war
Zwei 68er blicken auf Dutschke, die Deutsche Frage und den Einfl uß der Stasi auf den SDS zurück
Daniel Napiorkowski

Eines vorweg: Der Titel „Dutschkes Deutschland“ ist insofern irreführend, als daß die 68er-Ikone lediglich in einem, zudem dem kürzesten der drei Kapitel behandelt wird. Der nüchterne, wenn auch etwas sperrige Untertitel „Der Sozialistische Deutsche Studentenbund, die nationale Frage und die DDR-Kritik von links“ erfaßt den Inhalt treffender.

Am 24. Juni 2009 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Aufsatz des Direktors der Stasi-Opfer-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Hubertus Knabe, der sich mit dem Einfluß des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf den SDS befaßte. Darin behauptete Knabe, der Studentenbund sei schon früh durch Informanten, Einflußagenten und kommunistische Kader „zielstrebig unterwandert“ worden. Den Abdruck einer Gegendarstellung der ehemaligen SDS-Aktivisten Tilman Fichter und Siegward Lönnendonker verweigerte selbige Zeitung mit der Begründung, diese sei zu „kleinteilig“.

Aus ebendiesem von der FAZ abgelehnten Text ging die nun vorliegende umfassende Arbeit hervor, eine – wie es die Verfasser nennen – „deutschlandpolitische Streitschrift“, die sich nicht nur darauf beschränkt, Knabes Vorwürfe zurückzuweisen, sondern die gesamte Geschichte des SDS unter dem Aspekt der nationalen Frage Revue passieren läßt.

Der SDS, gegründet im September 1946, entstammte zwar dem klassischen sozialdemokratischen Milieu; gleichwohl vereinte er anfangs auch andere politische Strömungen und Traditionslinien, von denen etwa die Reminiszenzen an die Jenaer Urburschenschaft und die freideutsche Jugendbewegung zu den markantesten zählten. Daneben war aber auch der Anteil ehemaliger Wehrmachtssoldaten und -offiziere sowie der KPD nahestehender Studenten auffällig. Unter der Führung des konsequent anti-kommunistischen Kurt Schumacher konnte die SPD schließlich einen Unvereinbarkeitsbeschluß einer Mitgliedschaft beim SDS und einem Bekenntnis zur KPD bzw. SED durchsetzen.

In den Jahren 1951 bis 1954 zeichnete sich jedoch eine politische Kräfteverschiebung innerhalb des Bundes ab: War der SDS bis dahin – etwa in wehrpolitischen Fragen – eher rechts der SPD zu verorten, so positionierte er sich spätestens nach der Marburger Delegiertenkonferenz Ende Oktober 1954 zunehmend links. Die Sozialdemokraten und der Studentenbund drifteten fortan immer weiter auseinander, zumal nachdem Herbert Wehner, der spätere Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, im Oktober 1961 dem SPD-Vorstand ein Dossier des Bundesamtes für Verfassungsschutz vorlegte, das dem SDS bescheinigte, „stärker in das Fahrwasser extremer Kräfte“ geraten zu sein.

Die SPD-Führung faßte daraufhin ihrerseits einen Unvereinbarkeitsbeschluß, der nun SDS-Mitglieder aus der Partei ausschloß. Bemerkenswert bleibt aber, daß während die SPD auf ihrem außerordentlichen Parteitag von Bad Godesberg 1959 ein neues Grundsatzprogramm verabschiedete, das die deutsche Einheit als politisches Nahziel nicht mehr auf der Tagesordnung sah, der SDS weiterhin an der Wiedervereinigung festhielt. De facto wurde diese Position erst im Mai 1964 aufgeweicht, nachdem der SDS-Bundesvorstand als erster von allen bundesrepublikanischen Studentenverbänden am „Deutschlandtreffen“ der FDJ teilnahm.

Rudi Dutschke trat dem SDS 1965 bei. Der aus Schönefeld bei Luckenwalde stammende Student wurde früh politisiert und lehnte sich bereits in seinen DDR-Jahren gegen die herrschenden politischen Verhältnisse auf. „Ich war nicht bereit, in einer Armee zu dienen, die die Pflicht haben könnte, auf eine andere deutsche Armee zu schießen“, begründete er später seine Verweigerung des Wehrdienstes in der NVA. Auch als SDS-Aktivist unterschied er sich von seinen Mitstreitern markant durch eine nationale Note: Zeitlebens hielt er unnachgiebig an der deutschen Einheit fest – ein Umstand, der in den eigenen Reihen oftmals auf Unverständnis stieß und nach Dutschkes Tod am liebsten vergessen worden wäre.

Dennoch entflammte vor einiger Zeit eine rege und kontroverse Diskussion über eine Neubewertung Dutschkes unter dem Aspekt der nationalen Frage. Einer der Wortführer dieser Debatte war Bernd Rabehl, einstiger Freund und Wegbegleiter Dutschkes, der 2002 eine Biographie vorlegte, die den gesamtdeutschen Standpunkt in Dutschkes Denken betont („Rudi Dutschke. Revolutionär im geteilten Deutschland“). Nicht nur deshalb, auch wegen Rabehls Annäherung an die politische Rechte übergoß die Linke den alten Mitstreiter größtenteils mit Hohn und Haß – eine politische Unreife, die auf Fichter und Lönnendonker löblicherweise nicht abgefärbt ist.

Diese sehen gerade in dem nationalen Identitätsverlust eine große Schwäche der deutschen Linken und attestieren Dutschkes nationalstaatlichen Überlegungen nach wie vor Aktualität, während die Überlegungen eines Joschka Fischer insoweit „längst obsolet“ seien.

Kann der Einfluß Dutschkes auf den SDS kaum überschätzt werden, so ist bis heute umstritten, wie weit der Einfluß des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR auf den Studentenbund reichte. Unstreitig ist, daß es dem MfS gelungen ist, mindestens fünf Agenten in hohe Positionen innerhalb des SDS, zum Teil sogar in den Bundesvorstand einzuschleusen. Während der eingangs zitierte Knabe in diesem Zusammenhang von Einflußagenten spricht, sehen Fichter und Lönnendonker in den Stasi-Agenten bloße Spitzel, deren Tätigkeit sich auf reine Spionage beschränkte.

Es fällt zwar nur schwer zu glauben, daß das MfS gezielt Spitzel innerhalb der SDS-Führung plazierte und deren jedenfalls theoretischen Einfluß nicht in ihrem Sinne nutzen wollte; ein endgültiges Urteil muß indes insofern diffiziler ausfallen, als mindestens zwei der fünf Stasi-Agenten gleichzeitig Mitarbeiter des Bundesamtes bzw. des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz waren, die einzelnen Verstrickungen der Doppelagenten also noch verwobener als ohnehin schon waren. Zudem darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß der SDS niemals ein homogener Block war, daß es also auch ohne mögliche MfS-Einflußnahme DDR-freundliche Strömungen innerhalb des Studentenbundes gab, was ein Urteil zusätzlich erschwert. Wie also auch immer das Urteil ausfällt: eindeutig ist es jedenfalls nicht.

Es wäre jedoch unredlich, die vorliegende Arbeit auf eine Revision der jüngsten revisionistischen Publikationen zu dem Thema – neben Knabes Veröffentlichungen etwa Sven Felix Kellerhoffs „Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex“ (Hamburg 2010) – verkürzen zu wollen. Fichter und Lönnendonker gehen in ihrem Rückblick sowohl mit dem SDS als auch mit der gesamten deutschen Linken hart ins Gericht. Ob sie dem SDS vorhalten, die Vertreibungsverbrechen an den Ostdeutschen nicht aufgearbeitet zu haben; ob sie auf die Diskrepanz der damaligen Studenten hinweisen, den Vietnamkrieg zu einem Dauerthema gemacht zu haben, während der tschechoslowakische Kampf für eine freie ČSSR nur wenige Wochen wachgehalten wurde; oder ob sie auf die Doppelzüngigkeit Erich Kubys hinweisen, dessen frühes Bekenntnis zur deutschen Einheit im schroffen Widerspruch zu seinem Alarmismus 1989 steht, als er im Hinblick auf die tatsächlich erfolgte Widervereinigung vor einer „Schönhuberei“ warnte: Auch nur halb soviel Selbstkritik stände der heutigen Linken gut zu Gesicht.

Natürlich ist die Handschrift des Textes eine dezidiert linke. Um so mehr überrascht es, daß auf milieuüblichen Jargon verzichtet wird – lediglich Christian Semler kann in einem Vorwort dem Binnen-I nicht entsagen –, auch „unschöne Begriffe“ – so die taz über den Begriff der nationalen Frage – ohne alberne Anführungszeichen genannt werden und der Text nach der alten deutschen Rechtschreibung geschrieben ist.

Tilman Fichter, Sieg-ward Lönnendonker: Dutschkes Deutschland. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund, die nationale Frage und die DDR-Kritik von links. Klartext Verlag, Essen 2011, broschiert, 318 Seiten, 19,95 Euro

Foto: Rudi Dutschke protestiert gegen den Vietnamkrieg, Berlin 1967: Zeitlebens hielt er unnachgiebig an der deutschen Einheit fest

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