© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/11 / 30. September 2011

Verarmtes Deutsch
Essay: Wir pflegen unsere Sprache nicht mehr
Wilhelm Setzer

Die Regierung, Europa, das Theater, das Kinderkriegen, sogar die Kunst, alle haben sie, alle sind sie in der Krise. Nur die Sprache, unser Deutsch, hat eine solche nicht zu haben. Denn sie wird täglich von allen gebraucht. Wie übersteht sie das bloß?

Sie sieht aus wie der zerschlissene Teppichboden eines Hotels, in dem täglich Hunderte von Gästen kommen und gehen. Der Boden ist nach kurzer Zeit nicht mehr sauber zu kriegen und muß ersetzt werden. Das geht mit unserer Sprache nicht. Doch sie wird ständig von dafür unbefugtem Personal repariert und aufs dümmste saniert.

Der Jammer der letzten Rechtschreibreform ist noch nicht verhallt, da verbieten sie uns jetzt die Schreibschrift. Neue Wortmoden, wie die Studierenden, ersonnen von „geschlechtsdemokratischen“ Eiferern, machen rasch Karriere. In Österreich flickschustern sie an der Nationalhymne herum, dort würden die Söhne der Heimat ohne die Töchter bejubelt. Skandal. Also rein mit den Töchtern, ob sie Rhythmus und grammatische Struktur der Verse verderben, wen stört’s, wenn die Töchter parteiübergreifend den Vorrang auch in der Hymne begehren (JF 30/11). Nicht ein einziger Dichter, der diesen Namen für sich reklamiert, erhebt Einspruch gegen den Mißbrauch. Unsitten, Charaktere und Moden einer Gesellschaft sind für den hellwachen Leser alle gut sichtbar im Spiegel der Sprache. Soll diese wieder zu Klarheit und Bewußtheit der Lage führen, muß man den Spiegel erst wieder putzen.

Der Germanist und Literaturwissenschaftler Jürgen Brokoff hat voriges Jahr eine Studie vorgelegt zur „Geschichte der reinen Poesie“ in Deutschland. Dort zeigt er an großartigen Beispielen, wie Christoph Martin Wieland, wie Goethe und Schiller, Philipp Moritz und zuletzt Stefan George und Hugo Ball zuerst die verbrauchte, arg ramponierte Umgangssprache reinigen mußten, bevor sie sie als Material ihrer poetischen Arbeit verwenden konnten. Diese Sprachreinigung im Dienste der Poesie wirkte sogleich auf die dadurch gebesserte Umgangssprache ertragreich und wohltuend zurück.

Wo sind die Dichter und Arbeiter im Weinberg der Sprache, die heute die Herkulesarbeit auf sich nähmen, um den riesigen, verdreckten Saal der Semantik und Rhetorik zu säubern? Wir müssen sie suchen wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Der Wunsch aber wird dringlicher, daß die Dichter den Dialog mit dem Geist der Sprache wieder aufnehmen, statt diese bloß in sensationellen Stoffen den kurrenten Zeit-Stimmungen und politischen Ideologien verfügbar zu machen. An solchem Dialog kann die Umgangsprache anknüpfen, indem sie die Urbedeutungen in unverfälschter Gestalt wieder erführe, Rhythmus und Sprachklang bei der Wiedergeburt der alten Metaphern erneut zu hören bekäme. Das heißt nicht, daß eine Rückkehr zum reinen Ursprung möglich wäre.Wandel und Entwicklung sind fortwährend der Fall. Doch nicht jeder, der sich mit diesen Vokabeln rechtfertigen will, erscheint deshalb schon glaubwürdig. Die vielzitierten flachen Hierarchien in der Gesellschaft erklären die Autorität zum obsoleten Begriff, doch in der Sprache ist diese so unvermeidlich wie auf der Bühne. Oder wer glaubt noch immer, daß man Tragödien im sozialpädagogischen Kollektiv ersinnen und inszenieren kann?

Unser Sprachproblem liegt nicht an der Oberfläche für jeden erkennbar zutage. Es ist von Puristen und Erbsenzählern nicht zu lösen. Der Verfall der Sprechkultur liegt nicht am „Denglischen“ allein, das besonders konservative Menschen stört, die von der schönen deutschen Sprache träumen, wie sie ein Gründgens oder ein Quadflieg noch sprechen konnten.

Schön wird hierzulande schon lange nicht mehr gesprochen. Durch Jugend- und Medienjargon arg verunstaltet, klingen viele Nuancen und Wendungen verwaschen und billig. Ein Großteil der Jugend kommt inzwischen mit einer Handvoll Adjektive durch alle Umstände: „kraß“, „cool“, „assig“, „endgeil“ geben den vulgären Ton an. Daraus resultiert eine fortschreitende Verarmung an Geist und Ausdruck. Den kruden Urteilen entwächst weder Toleranz noch Freude an der Meinungsvielfalt. Sie werden durch das Schrumpfdeutsch ad absurdum geführt. Geistreichtum und Sprachlosigkeit reimten sich noch nie.

In Politik und Medien zielt Sprache heutzutage allein auf die Quote bei Wählern und Zuschauern, in der Werbung auf Anmache der Kunden. Deswegen ist aller Information ein human touch beigemengt. Wähler, Zuschauer, Kunden werden in einer Art und Weise angesprochen, daß es eine wahre Phrasenhochzeit ist; jeder bekommt alles versprochen. Dabei wird das Deutsche so lange vergewaltigt, bis es ins Ohr jedes Halbalphabeten geht.

Man könnte den Mißbrauch, den Ausverkauf der Sprache in fast jeder Branche belegen. So wird das Deutsche unbrauchbar für die Verständigung, die deshalb auch nur noch als „Kommunikation“ daherkommt.

 

Wilhelm Setzer ist promovierter Literaturwissenschaftler und arbeitet als freier Autor für den Rundfunk und verschiedene Zeitungen.

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